Nachdem der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen zunächst als Wahlkämpfer für die sächsische Union durch Dunkeldeutschland getourt war und in diesem Zuge sogar kurzzeitig als künftiger Landesinnenminister ins Gespräch geriet, zeigt sich der amtierende, wenn auch nicht gewählte Ministerpräsident Kretschmer nun erleichtert darüber, dass Maaßen keine Wahlkampf-Auftritte mehr wahrnimmt. Mit Christa Wolf nähert sich unser Autor einer ungeplanten Alterskarriere an, die vor genau einem Jahr, am 26. August mit der sogenannten 'Hetzjagd von Chemnitz', ihren Ausgang nahm.
*
„Unter den drei Akazien ist Nelly zum erstenmal verraten worden, und zwar, wie es sein muß, von ihrem besten Freund, Helmut, dem jüngsten Sohn des Polizeioberwachtmeisters Waldin, Sonnenplatz 5, Erster Stock rechts“, weiß die Heldin aus Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster, der von einer Kindheit im Dritten Reich handelt, zu berichten:
„Es fing ganz harmlos an. Franz warf den Stein, der zufällig den kleinen Bruder traf, ebensogut aber Nelly hätte treffen können, die dicht neben Helmut auf der karierten Decke hockte, mit ihren Puppen, denn sie spielen hier immer Vater Mutter Kind. Als Helmut aufschrie und, genötigt von seinen Brüdern, den Grund für seinen Schrei nennen mußte, waren die maßlos verblüfft: Ein Stein! Von ihnen hatte ja keiner einen Stein nach dem kleinen Bruder geschmissen. Wenn der aber doch an der Schulter getroffen war; wenn aber doch ein kleiner Feuerstein als Beweis auf der Decke lag, erhob sich die Frage: Wer hatte ihn geworfen? Es konnte ja nur jemand sein, der in der Nähe war – logisch, nicht? Wer aber ist, außer uns natürlich, noch in der Nähe, Kleiner? Niemand? Langer, der ist blind, borg ihm mal deine Brille! – Blind? Glaub ich nicht. Der ist bloß ein bißchen schwer von Kapeh. Dem muß man beibringen, wer ihm fast die Bonje eingeschmissen hat. …Nelly muß also mit ansehen, wie seine drei großen Brüder ihren Freund Helmut knuffend und lachend auf die dritte Akazie zutreiben, bis er mit dem Rücken gegen den Stamm steht, während sie ihn – aus Spaß natürlich, denn sie lachen ja die ganze Zeit – immerzu fragen, wer denn außer ihnen noch in der Nähe sei. Aber es ist ja nur noch sie selbst in der Nähe, Nelly, und sie hat ja den Stein nicht geschmissen, das wissen doch alle, und Helmut weiß es auch. Also ist es Spaß. …Inzwischen hält einer der Brüder – das ist jetzt Kutti, der jüngere – dem Helmut die Spitze eines Stöckchens gegen die Kehle, damit er mit dem Getue aufhört. Sie wollen doch ihrem kleinen Bruder nicht zu nahe treten, er soll ihnen doch bloß den Namen sagen. Na? Na? Da hört Nelly, ungläubig, wie Helmut den Namen nennt: Es ist ihr eigener Name. Er weint dabei, sagt ihn aber: Nelly.“
Von dem allenthalben anzutreffenden, mediatisierten Kunstgewerbe unterscheidet Erzählkunst, dass sie sich nicht in Illustration zum Zeitgeist erschöpft. Die Passage aus dem wichtigsten Werk der 2011 verstorbenen Schriftstellerin besticht, weshalb sie hier so ausgiebig zitiert wurde, durch eine in heutiger Prosa selten gewordene anthropologische Signifikanz. Aus einer Begebenheit, wie sie alltäglicher wohl kaum sein kann, entwickeln sich mit bestürzender Intensität die Konstituenten eines totalitären Paradigmas, nämlich wie man durch öffentliche Kompromittierung Anhänger rekrutiert.
Der Verlust der politischen Unschuld durch Verkehrung der Kausalitäten entwickelt seine auch psychische Eigengesetzlichkeit. Einmal eingetreten in den Kreislauf falscher Behauptung, kann sich der Einzelne dem Sog der Vereinnahmung nicht mehr entziehen. Wie die noch kindliche Heldin aus Christa Wolfs Roman erleben muss, ist der Freund zum feindlichen Kumpan geworden, der seinen Verrat nach außen durch eine Reaktionsbildung nach innen kompensiert:
„Und als das Stöckchen von seiner Kehle wegkommt, da ruft Helmut diesen Namen gleich noch mal, denn nun lautet die Frage seiner Brüder, wer ihn also mit Steinen beworfen habe? Nelly! Schreit Helmut, weinend zuerst, dann aber, als seine Brüder ihm freundschaftlich in die Seite boxen – na siehst du, Kleiner! –, brüllt er unverlangt immer weiter Nelly, fünfmal, zehnmal. Beim letzten Mal lacht er schon.“
Seit der Flüchtlingskrise 2015 folgt der „Kampf gegen rechts“ diesem Schema der Verkehrung von Ursache und Folge. Als vorläufig Letzte in der von der Kanzlerin initiierten und von Innenminister Seehofer verfolgten Sanktionskette hat dieser Tage die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrem Ruf nach einem Parteiausschlussverfahren das „Stöckchen“ gegen ihren Parteifreund und Mitglied der Werte-Union Hans-Georg Maaßen angesetzt.
Zur Erinnerung: Es fing mit der vorgeblich auf Video dokumentierten „Hetzjagd“ von Chemnitz an, in jener Stadt, in der am 26. August 2018 ein 35-jähriger Deutscher aus einer Gruppe junger Männer, mutmaßlicher Asylanten, heraus feige erstochen wurde. „Als Märtyrer im rechten Sinne eignet sich Daniel Hillig [das Opfer, Anm. des Verfassers] allerdings gar nicht. Gutmütig, fröhlich, politisch eher links, so beschreiben ihn seine Freunde“, ist Der Spiegel (Chronik 2018, S. 138) bemüht, den Mord als Kollateralschaden abzutun.[1] Durch kalkulierte politische Abstraktion suchen die Autoren das Betroffensein zu mindern, als bliebe der gewaltsame Tod eines Menschen, dessen Mörder bis heute nicht überführt sind, ein kleineres Übel.
Maaßens „Vergehen“ besteht nun darin, dass er partout nicht den „Helmut machen“ will. Aus Erkenntnissen des Dienstes, dem er vorstand, immerhin des Bundesverfassungsschutzes, bestreitet er die Beweiskraft jenes Videos. (Inzwischen ist ausgiebig recherchiert, TICHYS EINBLICK, 01/2019, dass es sich bei dem inkriminierten, Menschen mit Migrationshintergrund „Jagenden“, den die kurze Aufnahmesequenz zeigt, um einen Passanten handelt, der einem jungen Mann nachsprinten wollte, der ihm Bier über die Kleidung schüttete und darob von seiner Frau zurückgerufen wurde).
Nicht nur für jene, die, wie Christa Wolf, ein Leben in zwei Diktaturen verbrachten (an den kleindeutschen Staatssozialismus, als dessen zweite auf deutschem Boden, adressiert die Erzählerin ihre Psychoanalyse einer Kindheit) bleibt ein hohes Gut, dass es in einer sogenannten Volkspartei nicht nur Gefolgsleute, sondern noch Mitglieder mit „Authentizität“, dem Leitmotiv, das auch die Autorin dereinst über ihr künstlerisches Schaffen stellte, gibt.
Jene, die die Wahrheit kennen, sie aber nicht benennen, sollten sich ins Stammbuch schreiben: Auch Gefolgschaft ist nicht ohne Risiko. Ohne dieses Sich-selber-treu-Bleiben, dass man Charisma nennt, wird man auch in der Mediengesellschaft auf längere Sicht nichts, selbst oder gerade wenn es um die eigene politische Kariere geht.
[1] Es ist diese kalkulierte Abstraktion, mit der die Opfer ein zweites Mal ermordet werden sollen: Man löscht ihr Leben aus und ruft zugleich dazu auf, ihren Tod mit ‘Werten‘ zu verrechnen. Zum Kalkül der Mörder gehört, die Ermordeten in der Hochrechnung des Anschlags nicht vorkommen zu lassen. Ebendieser Lesart folgt unfreiwillig jeder, der die Bürger jetzt mit dem immergleichen Satz auf die symbolische Ebene hievt: Wenn ihr nicht dieses oder jenes macht, ‘hätte der Terror gesiegt‘“, war in der F.A.Z. (Sorge dich nicht, lebe!, 20. Nov. 2015) zum Bekennerschreiben der Attentäter von Paris, nach dem der Anschlag nicht den ermordeten Menschen, sondern den „westlichen Werten“ gelte, zu lesen.
*
Über den Autor:
BERND SCHICK, lebt bei Frankfurt/Main; Studium der Psychologie und Germanistik an der Humboldt-Universität; Stellvertret. Chefredakteur der Weimarer Beiträge; im Mai 1989 Ausreise in die Bundesrepublik. Lehrauftrag, Geschäftsleitung einer Medienagentur, Psychotherapeut. Letzte Buchveröffentlichung: Erfurths Ehre (Roman). Weimar/Rostock 2012.
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.