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Beate Broßmann: WENN ICH DAS WORT WELTUNTERGANG HÖRE, ZÜCKE ICH MEINEN TASCHENRECHNER

Eine Rezension zum neuen Buch von Guillaume Paoli: Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten. Matthes & Seitz Verlag Berlin, 2023


Guillaume Paoli (Jahrgang 1959, gebürtiger Franzose) machte sich in den neunziger Jahren in Deutschland einen Namen mit seiner unkonventionellen Gegenerzählung zum Dogma „(Lohn-)Arbeit ist der wichtigste Lebensinhalt eines Menschen“. Er befreite die Arbeitslosigkeit vom Stigma der Schande und platzierte die Figur des „Glücklichen Arbeitslosen“ im öffentlichen Diskurs, einen Menschen, der, befreit von den Ketten der „Megamaschine, über sein Leben und dessen Gestaltung selbst entscheidet und durch die Ausstrahlung seiner Kreativität der Gemeinschaft dient. Paoli war immer ein performender Philosoph, der seine Theorien und Slogans gern aktionskünstlerisch begleitete. In seinem neuen Buch plädiert er für einen „aufgeklärten Katastrophismus“. Der Klappentext spricht vom „gemeinsame[n] Handeln angesichts des menschengemachten Desasters“, das durch leere[n] Sprechblasen“ und „Bullshit“-Gequassel bisher verhindert worden sei. Paoli setzt eine „Archäologie verdrängter Einsichten“ dagegen und stellt die Systemfrage. Na dann!





Keine Utopien mehr


Der Autor gliedert sein Buch in 123 meist kurze Kapitel, in denen je ein Aspekt abgehandelt wird, der direkt oder indirekt mit dem zu tun hat, das „Desaster“ zu nennen sich Paoli nach gründlicher Abwägung entschlossen hat. „Tatsächlich besteht heute das Desaster aus dem Zusammenspiel von physischer Entropie (Klimaerwärmung), biologischer Entropie (Artensterben) und nicht zu vergessen: geistiger Entropie, der Veräußerung der Praxis an Automaten mit entsprechender Dissipation des Denkvermögens.“ Für eine lineare Erzählung fehle heute jedem der Überblick. Große politische Entwürfe und Utopien seien heutzutage nicht zu erwarten. Und das sei auch gut so, denn die Rückseite dieser Münze heiße immer Totalitarismus. (Diese Auffassung vertritt auch die Neue Rechte, mit der Paoli auch sein Spott über politische Korrektheit und Kitsch der linksliberalen Kulturszene verbindet.) „Lieber das Ganze als ein Nebeneinander chronologischer Gedanken belassen. Das Ganze will doch chaotisch dargestellt werden.“ Immerhin verbinde eines alle Krisenbereiche: sie „sind menschengemacht, obgleich nicht gewollt.“


Wenn das Denken versagt


Grundlage von Paolis Spurensuche ist die Überzeugung, daß die Katastrophe nicht bevorstünde, sondern wir uns bereits mittendrin befänden. Die düstere Gegenwart mache die Dystopien überflüssig. Schockstarre ersetze den Zwangsoptimismus. Und: „Der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher, und in den Zwischenraum drängen Ängste und Ersatzhandlungen.“ Das Versagen des Denkens ist ein eigener Krisenherd, konstatiert Paoli.


Das französische „Unsichtbare Komitee“ schreibt über das „Corona“-Spektakel ein 250 Seiten langes Analyse-Buch mit dem Titel „Konspirationistisches Manifest“, in dem Terminologie und Sound ihrer situationistischen Gegenwart kaum noch zu finden sind. Guillaume Paoli, der Schlingensief der Philosophie, schreibt nach Corona und nach fast einem Jahr Krieg in Europa ein nahezu konventionelles kritisches Buch über den Zeitgeist. Es scheint, dass die anarchistische Linke die Nerven verliert. Genug der originellen Sprüche und launigen Assoziationen!, lautet offenbar ihr neues Credo. Das Spiel ist aus! Auch wir dürfen nicht mehr ironisch kommentierend am Straßenrand stehen. Auch wir müssen uns jetzt ins Getümmel werfen, um das Schlimmste, die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen, zu verhindern.


Ja, der herrschende Zeitgeist steht auf Panik: Gretha Thunberg forderte sie regelrecht ein, weil sich ohne sie nichts bewege in Sachen Weltrettung vor der Klimakatastrophe. Die Politiker und die Leitmedien schürten sie zwei Jahre lang in Sachen „Corona“, um die Bürger zu disziplinieren und Protest zu verhindern. Panik schien auch in der Finanz- und Inflationskrise das adäquate Mittel des Umgangs mit derlei Phänomenen zu sein. Wenn sich jetzt anarchistisch-linke Theoretiker der alarmistischen Stimmung anschließen, kann dies (mindestens) zwei Gründe haben: Entweder ist die Lage, und zwar die ökologische des Planeten Erde, so schlimm, daß sie einen gemeinsamen Gang aller politisch und ökologisch aktiven Kreise erzwingt und zu diesem Zweck bisherige unüberbrückbare Differenzen in Theorie und Praxis – zumindest zeitweise – auf Eis gelegt werden müssen. Oder die Panikmacher sind so erfolgreich mit ihrer Arbeit, daß selbst Skeptiker und Relativierer in ihr Lager überwechseln.


Paoli ist zuzustimmen, wenn er den Medien vorwirft, sie trügen ihren Teil zur kognitiven Dissonanz bei, indem sie das Desaster, die allgegenwärtige Bedrohung, zur Nachricht dimmten: „Fünf Minuten Apokalypse, und nun zum Sport.“ Damit werde die Trennung von Unheil und Alltag künstlich aufrechterhalten. Das heißt: Die Medien fungieren einerseits als Sprachrohr des Alarmismus. Aber auf der anderen Seite suggerieren sie, das Leben laufe weiter wie gehabt. Die Katastrophe ist nur eine Nachricht – kein Grund zur Sorge.


Nichts gelernt aus der Geschichte


Paoli schreibt, die informierten Zeitgenossen hätten vor 1914 gewußt, daß ein noch nie dagewesener Krieg über Europa hereinbrechen würde. Das stand quasi in allen Zeitungen. Diese Vorkenntnis aber hat es nicht vermocht, die Katastrophe zu verhindern. Der philosophische Künstler hat bei seiner Ein-Mann-Vorstellung im Schauspielhaus Leipzig, wo er als Hausphilosoph tätig war, im Jahr 2013 das Jahr 1913 „gespielt“. Das Thema lag in der Luft, wovon auch Florian Illies´ dokumentarischer Roman „1913“ zeugte. Man dachte auch einhundert Jahre später, daß – bei diesem Kenntnisstand der Zeitgenossen und der Sensibilität für die Gefahr – das Gefürchtete nicht eintreten werde. Man kann doch aus der Geschichte lernen! Nein, kann man leider nicht.


Zum einen gibt es keine Beweise für etwaige Analogien. Man kann auch mit guten Argumenten andersartige Vergleiche, Parallelen und Sachlogiken behaupten. Und zum zweiten sieht es ganz danach aus, als ob das jahrelange sanft schwingende Damoklesschwert eine Dauerangst hervorbringt, die das Gefühl verstärkt: Nun fangt schon an, desto eher haben wir es hinter uns, und andere gesellschaftliche Konstellationen sind unseren Interessen und Bedürfnissen vielleicht freundlicher gesinnt. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Damit wären wir bei der Verwandtschaft von Katastrophe und Revolution. Das ästhetische Vergnügen an vorgestellten Erdbeben, Alien-Attacken oder Kometeneinschlägen ist eine Ersatzsehnsucht. Um den radikalen Bruch mit der Wirklichkeit zu erzwingen, wird anstelle von nicht vorhandener revolutionärer Gewalt auf Naturgewalt gehofft. So wäre auch die Popularität der Formel zu interpretieren, ein Ende der Welt sei heute vorstellbarer als ein Ende des Kapitalismus.“


Die Psychologie des Untergangs-Narrativs hat aber noch andere Seiten: „Weil ich mir der unsagbaren Schrecken im Voraus bewusst geworden war, hatte ich im Grunde nicht glauben wollen, dass es je soweit kommen würde“, zitiert Paoli den Schriftsteller Wilhelm Lamszus aus dessen fiktionaler Vorwegnahme des Ersten Weltkrieges im Roman „Das Menschenschlachthaus“. Weil „das Niedagewesene per definitionem unvorstellbar ist, bleibt [das] Wissen wirkungslos“.


Weil das große Ganze jenseits ihrer Erfahrung liegt und sie in dieser Sphäre über keine Kompetenz verfügen, beharren die Menschen – dem Trägheitsgesetz folgend – auf ihrer ursprünglichen Vorstellung von Normalität und handeln und denken wie vor dreißig Jahren. Hier kommt die naturgegebene Fokussierung des Weibes auf den Alltag, die Familie und den lokalen Raum, den Nahbereich (Stadt versus Erdenkreis) zum Tragen. Bezüglich eines globalen Zusammenfalles von Multikrisen ist aber auch der „Mann an sich“ überfordert, sei es der klassische oder der moderne, effeminierte. Wenn man ohnmächtig ist, also den Eindruck hat, keinen Einfluß auf den Gang der Dinge zu haben, und weiß, daß man auch – trotz des Internets – nicht über die Voraussetzungen dafür verfügt, richtige von falschen Einschätzungen und Prognosen unterscheiden zu können, läßt man sich entweder von der Aussichtslosigkeit leiten, von der Panik anstecken und in Psychopharmaka, Alkohol oder andere Drogen flüchten. Oder man verdrängt und versucht, so wenig wie möglich mit den präapokalyptischen Phänomenen in Kontakt zu kommen, also auszuweichen und eine heile kleine Welt zu spielen, weil nichts anderes „Sinn macht“. Energische Personen mit Selbstvertrauen hingegen bauen sich Privaterklärungen, in deren Zentren nicht selten Personen oder Organisationen stehen, die im Geheimen ein den Interessen des Volkes oder der Völker entgegenstehende eigene Agenda durchzusetzen versuchen. Diese – vermeintliche – Ursachenkenntnis schafft Klarheit, beruhigt und läßt diese Menschen auf ihre Art rationale Verhaltensentscheidungen treffen und Konsequenzen ziehen. Sie befähigen sie zum Handeln. Das Schlimmste für viele Menschen (vielleicht eine conditio humana) ist die gewußte Unkenntnis: Man enthält mir Wissen und Informationen, die mich angehen und mittel- oder unmittelbar betreffen, und macht mich handlungsunfähig. Sie glauben an einen Kollaps, um die Kontrolle wiederzuerlangen – eine recht paradoxe Form von Kontrolle. Paoli nennt das sublimierte Ohnmacht“: „Zumindest sehe ich voraus, wogegen ich nichts mehr tun kann.“

Zum Dritten ist der Mensch ein sinnbedürftiges Wesen. Er benötigt transzendente Entwürfe oder zumindest eine weltanschauliche Metaebene, um sein Leben einzunorden. Heute mildert oder federt in der westlichen Welt kein religiöser Glaube die Gefährlichkeit unserer Lage ab und verleiht ihr – vielleicht schon im Vorhinein – einen Sinn. Vor einem solchen Hintergrund benötigen Katastrophe und Zusammenbruch die Zeitgenossenschaft, den „Präsentismus“. Zukunftslosigkeit ohne höhere Idee bewirkt, daß alles Denkbare schon in der Gegenwart stattfinden muß. Was haben wir von einer Katastrophe, die erst kommt, wenn wir nicht mehr im Stück mitspielen?


Problem Verblödung


Paoli sieht neben der Tücke des Erkenntnisobjekts und der Geldgier, die auch Bestechung von „unabhängigen“ Experten umfaßt, noch einen anderen wichtigen Wirkungsfaktor bei der galoppierenden Verbreitung von Unwissen und Irrationalität im Spiel: die zielgerichtete „Verblödung“. Der Griff nach dem Unbewußten, die Ausschaltung der Reflexion durch Triebmanipulation und das Andocken an unbewußte Motive nahm in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts infolge einer Revolution in der Psychologie ihren Anfang. Politische Propaganda und kommerzielle Werbung wurden subtil und manipulativ. Die Zerstörung der Vernunft sei auch der Marktlogik anzulasten, die flächendeckend alle Sektoren der Gesellschaft erfasse und dadurch toxisch wirke. Im Gegensatz zur Epistemologie, die die Voraussetzungen für das Wissen erarbeitet, untersucht die Agnotologie, wie Unwissen fabriziert und gesichert wird. Unwissen ist voll im Kommen. Das bedeutet nicht, dass Lug und Trug das gesellschaftliche Betriebssystem vollständig infiziert hätten. Bloß sind Lug und Trug in der erforderlichen Menge an allen Stellen zerstreut, um einen allgemeinen Verdacht zu nähren. Man kann sich über nichts mehr sicher sein.“


Zur Verschmutzung des Geistes ist daher Paolis Einschätzung zufolge kein Masterplan notwendig, dessen Existenz die Verschwörungsfantasten behaupteten. Die zuvor beschriebenen Manipulationspraktiken an menschlichen Gehirnen aber scheinen mir schon den Tatbestand der Verschwörung zu erfüllen – öffentlich bekannt gemacht wurden sie jedenfalls nie. (Und was sind beispielsweise Obsoleszenz und Abgasmessungsbetrug einer ganzen Branche anderes als Verschwörungen gegen Konsumenten und die Allgemeinheit? Man könnte höchstens noch zwischen formal legalen und kriminellen Verschwörungen unterscheiden.) „Und das Misstrauen reicht nicht, um die Kurve des Unwissens umzukehren. Die Corona-Zeit hat das agnotologische Hauptproblem offenbart: Der Vertrauensverlust in Autoritäten und Institutionen geht keineswegs mit Selbstermächtigung und Stärkung des eigenen Urteils einher. Ganz im Gegenteil. Sowohl Misstrauen als auch Hilflosigkeit sind Auswirkungen davon, dass die Vernunft ins künstliche Koma versetzt wurde.“ Ja – und auch hier wieder die Frage: von wem? Etwa von Verschwörern gegen sie?


Nur die Klimakatastrophe zählt


Und dann liefert Paoli den Praxisbeweis für diese Beschreibung der gnoseologischen Verhältnisse, und zwar ad personam: Wie schon das „Unsichtbare Komitee schlägt sich auch Paoli auf die Seite der „Klimaapokalyptiker“. Paolis Buch sollte erklärtermaßen von den Denkweisen in postnormaler Zeit handeln. Diese stellt er auch überzeugend und mitunter polemisch dar. Wie bei der Rundumbelichtung eines Leuchtturms sammelt er Krisenarten und Gedanken zur Zeit auf recht phänomenologische Weise ein und theoretisiert sie nur an. Die prognostizierte Klimakatastrophe aber scheint ihm der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Fiaskos zu sein: ein Prisma, durch das jeder andere Krisentyp gebrochen wird.


Der Philosoph begründet diese Parteinahme nicht, doch legt die Art, wie er den Komplex „Klimakatastrophe“ behandelt, den Verdacht nahe, er halte sie für evidenzbasiert. Wie viele Wissenschaftler und wie viele gleichlautende Interpretationen der Fülle von Daten es gibt! Wer wollte da noch zweifeln? „Wenn die Botschaft nicht mehr bestritten werden kann, wird der Bote angegangen.“ Eine Überzeugung, die von Hundertausenden geteilt wird, scheint dem Philosophen (deshalb) berechtigt zu sein. Die Mehrheitsmeinung ist die richtige? Dieses Argument enttäuscht. Aber es zeugt davon, daß alle bekannten geisteswissenschaftlichen und sozialtheoretischen Interpretationen in unserem Raum der Multi- und Hyperkrisen nicht mehr greifen. Keine hatte extrapolieren können, in welche fatale Situation die Erdenbewohner geraten würden. Nun ist sie halt da, um eines der biedermännischen Bonmots unserer Ex-Kanzlerin zu modifizieren. Das heißt nicht, daß diese ganzen Theorien sich gegenwärtig als falsch herausstellen, sondern nur, daß ihre Axiome heute nicht mehr ausreichen, um die Gesamtlage zu verstehen und zu erklären. Und dann greift auch der relativistischste Denker und Skeptiker gelegentlich nach dem Strohhalm.


Die Theorie vom menschengemachten katastrophischen Klimawandel wird, glaubt man den Leitmedien, von den meisten Wissenschaftlern der Welt vertreten. Aber wo dem Anschein nach so viel Einigkeit herrscht, sind Renegaten nicht weit: Wie in Sachen „Corona“ zweifeln auch in diesem Themenkomplex ernstzunehmende Einzelkämpfer mit vernünftig klingenden Argumenten das verordnete Paradigma an. Von Nichtspezialisten, also von 99,9 % der Weltbevölkerung, lassen sich konkurrierende Interpretationen recht eigentlich nur noch denkmethodisch prüfen. Empirisch und theoretisch fehlt es uns, den medial Bearbeiteten, an Kompetenz. So wird eine Glaubensfrage daraus – eine günstige Ausgangslage für die Entstehung (oder die Entwicklung) einer Ökoreligion.

Der Klimaindustrie, die sich rund um die Angstlust herum etabliert hat, fehlt das Interesse an einem sachorientierten, vernünftigen Wettbewerb um die besten Argumente. Sie unterstützt den propagandistisch ausschlachtbaren symbolischen Aktivismus, der viele Arbeitsplätze schafft und staatliche Fördergelder in ihre Taschen spült.


Wiederkehr des Westernhelden


Auch der heutige Krisenmodus liegt – wie der vor 1914 – seit Jahren in der Luft und besitzt ebenfalls den Status eines Vorwissens. Man weiß noch nicht, woher die Initialzündung kommen und welche Krisenart die alte Welt zu Grabe tragen wird. Aber daß es wieder zu einem großen Kladderadatsch kommt wie 1914 – davon geht die politische Klasse genauso aus wie der „kleine Mann“. Für diese Art des Vorwissens steht die Symbolfigur des Preppers. Es geht ihm nicht darum, die Katastrophe abzuwenden. Er präpariert sich für Krisen, Kriege und Unglücke aller Art. Sein Ziel ist es, um jeden Preis zu überleben. Er ist mit der Katastrophe auf Du und Du. Die Wiederkehr des Westernhelden steht auf dem Spielplan.


Und mit solch einer Katastrophenhaltung unterstützt man das Ziel der „Elite“, Ruhe vor politischen Widerständlern und dadurch freie Bahn zu haben für egoistische, technokratische und undemokratische politische und unternehmerische Politik wie beispielsweise den „Great Reset“. Aber der bedeutende Influencer WEF mit dem unverwüstlichen Klaus Schwab an der Spitze surft vielleicht auch nur auf der Welle mit, versucht, durch Beschwerung einer bestimmten Stelle des Schiffes, den Kurs zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Aber er hat das Schiff nicht gebaut. Er versucht, Kapitän und Mannschaft zu platzieren. Auch „Kollapsologen“ fiebern der für sicher gehaltenen Katastrophe entgegen: Sie freuen sich auf die Zeit danach, auf die „neuen Zivilisationsformen, die dank des Zusammenbruchs entstehen könnten“. Es gebe bereits zahlreiche Entwürfe: „transhumanistische, ökoanarchistische, postfeministische, Nullwachstum, Low Tech“ – der große Knall ist in den Augen verschiedener politischer Aktivisten die große Chance.


Paoli klingt plötzlich wie ein Grüner


Paoli selbst schweben auch verschiedene Szenarien des Aufstiegs aus der Totalkrise vor: Ideologisch-religiös könnte das Konzept des „Transhumanismus“ Akzeptanz und Verbreitung finden. Guru Ray Kurzweil antwortete einmal auf die Frage, ob Gott existiere, mit „not yet“. Paoli: „Die Kraft dieser besonderen Religion ist, daß sie kein Religionsmerkmal vorweist. Sie ist antikonservativ, dynamisch, zukunftsorientiert. Sie braucht weder Gemeinde noch Kirche, dafür Universitäten, damit Dogmen, die noch zu sehr nach Soutane riechen, mit postmodernem Deo besprüht werden und deren Ursprung unkenntlich gemacht wird.“ Das ist trefflich formuliert.


Das Ziel der Weltrettung ist für Paoli verbunden mit der „objektive[n] Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die eine völlige Umwandlung der Weltgesellschaft voraussetzen.“ In Anbetracht der Dringlichkeit einerseits und der Widerstände gegen solchen Fundamentalwandel andererseits dürfe auch der Gedanke an eine Revolution kein Tabu sein. Aber dieser habe sich in der Vergangenheit verbraucht und diskreditiert. Setze man nicht mehr auf insuffiziente Reformen, ungeliebte Revolutionen und eine unerwünschte Reaktion, stehe eine involutionäre Entwicklung ins Haus, wie sie von den Chinesen vorgelebt werde: „Wachstum ohne Fortschritt, Nullsummenspiel mit eliminatorischem Ausgang, Zerreibung der Gesellschaft und Zermürbung der Individuen.“ Einen Ausweg sieht Paoli nur „im Bündnis aller gegenrevolutionären Kräfte“, was auch immer das heißen mag. Angestrebt werden müsse jedenfalls eine „andere Lebensweise, nachhaltiger, gesünder, egalitärer“. Unbegrenzten Ressourcenverbrauch werde es nicht mehr geben, aber an Freiheit und Gleichheit halte man fest. Daß der radikale Denker mit dem feinen Sprachgefühl an dieser Stelle klingt wie ein Parteiprogramm der Grünen, befremdet. Dieses Vokabular ist doch längst so verschlissen wie der Begriff „Revolution“!


Andererseits scheint ein gelinder Zweifel oder auch eine Ambivalenz durch die Räsonnements Paolis, die Zukunft betreffend, wenn er die gegenwärtige Lage charakterisiert: Die Menschen wähnten sich in einer fortdauernden Gegenwart, „wo sich nur noch chaotische, zusammenhanglose Episoden abzuspielen scheinen, über deren Sinn keine Einigkeit gewonnen wird. Geschichte war mal. Zugleich wird jedes Zeichen von Negativität unterdrückt und mithin die Möglichkeit, über die Jetztzeit hinauszudenken. Gewiss brechen noch Revolten aus, immer häufiger sogar. Was ihnen fehlt, ist die glaubhafte Öffnung in eine glücklichere Ära.“ Auch die Durchdigitalisierung der Welt, die Verwirklichung des kybernetischen Traumes von der sozialen Physik, erfüllt ihn mit Sorge. „Der Algorithmus ersetzt das Gesetz. Souverän ist, wer über die Daten verfügt.“ Die Interessen von Regierungen und Tech-Giganten, von der Kommunistischen Partei Chinas und Silicon Valley flössen zusammen. Anpassung werde das überholte Gegensatzpaar Fortschrittlichkeit versus Konservatismus ablösen. Spannungen würden ausgelagert in geographische Peripherien, wo das Leben so prekär ist, daß der Anschluß ans globale Netz als Lösung erscheint. Der gläserne Mensch als Figur der Technik adaptiven Verhaltens wird zu konstruktivem Widerstand schlicht nicht mehr imstande sein, scheint Paoli zu befürchten. Lediglich spontane Krawalle und Aufstände ohne Zukunftspotential sind dann noch vorstellbar. Bereits heute erlebten wir allenthalben „disruptive Prozesse, Pannen und Systemversagen, die das vereinheitlichte Weltgerüst ins Wanken bringen…Es ist gut möglich, daß in der kommenden Zeit das Beste und das Schlimmste in wackeliger Koexistenz stehen werden, wie heute in einem failed state wie Mexiko der Fall.“ Der Autor resümiert: „So ergibt sich möglicherweise ein triftiges Epochenbild: fortschreitende Anpassung, von Aufständen abgemildert.“


Widersprüchlich, durchwachsen, lesenswert


Ob solch Defätismus bei Paolis politischen Kombattanten gut ankommt? Er könnte dann darauf verweisen, daß seine (dürftigen) Äußerungen zur Überbevölkerung und zur Massenmigration streng auf linker Linie liegen.


Ein Autor voller Widersprüche, ein durchwachsener, lesenswerter Text. Er spiegelt den Zeitgeist und die Ratlosigkeit und Überforderung von sich auf Neuland vortastenden Diagnostikern, die nicht mehr überzeugend vorgeben können, sie befänden sich auf der Höhe der Zeit. Und das verbindet heute die Denker jedweder politischer Couleur. In der hochideologischen und -moralischen Atmosphäre der Gegenwart aber wird daraus wohl keine Zusammenarbeit erwachsen. Fiat moralia et pereat mundus.


Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.


Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de.





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