Es prallen derzeit zwei nicht kompatible politische Kulturen aufeinander. Putin ist in den Augen der Westeuopäer ein anachronistischer Kriegsherr: Er führt den Krieg, als lebten wir noch im vorigen Jahrhundert oder sogar im neunzehnten. Manpower plus High Tech. Mann gegen Mann. Vielleicht bald Militär gegen Partisanen. Ein Déja vu für Europäer. Sieht das jetzt nicht genauso aus wie 1938?, fragen sich die Alten. Und die Jungen haben mit der Muttermilch den Wert „Pazifismus“ aufgesogen. Da stehen die jungen Staatsführer, wissen weder ein noch aus und rätseln über den Alien Putin und seine Pläne. Keiner von ihnen wird jemals in Moskau oder Irkutsk gewesen sein. Und selbst wenn: Sie waren dann in einem Land, das anders war als alles, was sie bisher gesehen hatten.
Ihr Koordinatensystem paßte nicht zu russischer Mentalität und Verhalten. Ratlos kamen sie zurück. Man will ja nicht antirussisch sein, aber… Rußland ist immer noch das, was es war im Kalten Krieg: ein Koloß auf tönernen Füßen mit Atomwaffen und Bodenschätzen. Muß man nicht erstnehmen. Die Bodenschätze hätte man in Europa und der USA gern in Besitz genommen – aber nicht in einem heißen Krieg. Die Vereinigten Staaten haben schon immer gehandelt, wie es ihnen zuträglich war, und militärisches Eindringen in fremde, in shit hole countries war für sie als der einzigen Weltmacht und dem einzigen Weltpolizisten nie ein moralisches oder völkerrechtliches Problem. Es gab – soweit ich mich erinnere – nie eine Verurteilung im UN-Sicherheitsrat wegen Verletzung des Völkerrechts gegen die USA. Aber quod licet lovi, non licet bovi. Es wurde seit 1945 immer mit zwei verschiedenen Maßstäben gemessen. „Nationbuilding“ nannte man Amerikas militärischen Umgang mit amerika-skeptischen bis feindlichen Ländern. Dem Sicherheitsbedürfnis der einzig verbliebenen Großmacht stand Europa mit Verständnis und Akzeptanz gegenüber. Wenn Russen etwas Dementsprechendes taten, mußte man sie scharf verurteilen und mit Sanktionen bestrafen.
Die europäischen Pazifisten stehen dem Putinschen Krieg deshalb heute verständnislos, ratlos und kopflos gegenüber. In einer Kultur des Luxus, des Konsumismus, der Virtualität und Digitalität im Übergang zu Transhumanismus und künstlichem Gebären und auf dem Boden eines leibfeindlichen gesellschaftlichen Bewußtseins ist ein Krieg mit echten Menschen, echtem Blut und echtem Tod eine Beleidigung der Seele und der Ästhetik. Solch überbordender, archaisch-aggressiver Sinnlichkeit ist man in Westeuropa nicht mehr gewachsen. Man möchte unentwegt schreien: Aufhören! Ich halte das nicht aus! Man muß sich das Konfrontiertwerden dee westeuropäischen, insonderheit deutschen, pazifistischen „Schneeflöckchen“ und „Softies“ bis „Emos“ mit kriegerischer Barbarei als Schock vorstellen. Ohnmachtsgefühl. Fassungslosigkeit. Und, daraus folgend, Dämonisierung des Angreifers. Ist Putin nicht ein Teufel, vielleicht ein Irrer? Oder läuft er gerade Amok?
Der Überfall Rußlands auf die Ukraine ist nicht zu entschuldigen oder zu rechtfertigen! Es hätte andere Mittel gegeben, um die NATO an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Aber daß er Ursachen hat, die die NATO-Länder nicht wahrhaben und daher auch nicht in ihr Kalkül aufnehmen wollen, ist bezeichnend für die Ignoranz und die Überheblichkeit des Westens, praktiziert seit 1990, fortgesetzt im neuen Jahrhundert von Merkel, der russisch sprechenden, Rußland kennenden Kanzlerin. Kaum ein Politiker der NATO hat je versucht, sich in Lage Rußlands zu versetzen und die vielen Botschaften und Vorschläge Putins für eine „Friedenszone von Lissabon bis Wladiwostok“ in der internationalen Arena – und sogar im Deutschen Bundestag 2001 in deutscher Sprache, wo er Deutschland eine exklusive Partnerschaft und Freundschaft anbot – ernstzunehmen und auf sie positiv zu reagieren. Man hatte es nicht nötig, sich mit einer Lokalmacht mit geringer Wirtschaftskraft ins Benehmen zu setzen. Statt dessen ging man mit Putin verächtlich und demütigend um. Arroganz rächt sich in den meisten Fällen.
Die andere Kultur, von der ich eingangs sprach, äußert sich ja nicht nur in Antipazifismus. Die Kultur Rußlands ist in weiten Teilen der Bevölkerung vormodern: Positiv verstandene Begriffe wie Volk, Patriotismus, Traditionalismus zeugen von der Verwurzelung in einem „Ewigen Rußland“, dem „Mütterchen Rußland“. In diesem werden keine Homosexuellen anerkannt und keine dritten und xten Geschlechter. Demokratie wird von vielen Menschen nicht als effektives oder anzustrebendes Mittel der Staatenlenkung angesehen. Zu diesem Traditionalismus gehört eben auch ein gewisses Maß an Autoritarismus. Allerdings: Kriegführung gehört in den Augen der meisten Russen nicht dazu, weder in Afghanistan noch in Georgien und in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.
Nun kommt es zu einer dritten mentalen Spaltung der deutschen Bevölkerung. Die Massenmigration aus den arabischen Ländern setzt sich fort. Corona und die drohende Impfpflicht haben uns noch im Griff – da scheiden sich die Geister schon wieder an einem Krieg: Putinversteher contra Putinhasser. Ja, es ist nicht überzogen, von einer heftigen emotionalen Parteinahme zu sprechen. Die Gereiztheit auch hier bei uns hat einen hohen Level erreicht. Ohnmacht und Angst verstärken sich kontinuierlich. Die wirtschaftliche und die Finanzlage sind nicht dazu geeignet, die Gemüter zu beruhigen. Man kann nicht mehr gelassen miteinander diskutieren. Jede andere Position und Meinungsäußerung wird mit verbaler Aggression pariert. Die Nerven liegen fast überall blank.
Ostdeutsche und Westdeutsche werden auch in der Frage des neuen Krieges in der Tendenz unterschiedliche Positionen beziehen. Die sowjetische Armee, die in der DDR viele Stützpunkte hatte, wurde von den Bürgern nicht geliebt. Aber freundschaftliche Beziehungen zwischen Menschen hier und dort hat es viele gegeben. Mit den Privatrussen und -russinnen verstand man sich gut; es gab zahlreiche Kontakte und gegenseitige Besuche. Die DDR-Bürger hatten das Gefühl, „die Russen“ zu verstehen und einigermaßen zu kennen. Und dies war nicht das Ergebnis einer vermeintlichen Anordnung von „ganz oben“. Es war eher so, daß offiziell ein Fraternisieren mit den sowjetischen Soldaten unterbunden wurde, so gut es ging. Aber wer ließ sich schon von solchen lebensfremden Vorschriften beeindrucken?! Und wenn nun schon jeder Schüler Russisch lernen mußte, wollte er es auch dann und wann einmal sprechen und schreiben. Und es gab ein großes Mitgefühl mit den jungen sowjetischen Soldaten, die, wie man wußte, entsetzlich behandelt wurden in ihren gefängnisartigen Kasernen. Als sie Hals über Kopf die DDR verlassen mußten, weinte nicht nur Putin. Sie wurden wie räudige Hunde vom Hof gejagt, während die US-Army in ihren westdeutschen Kasernen verblieb. Die Sieger der Geschichte. Sie sind die Deuter und Interpreten der Vergangenheit, auch der der besiegten Bevölkerungen.
Aber natürlich: Kleinkriege sind Peanuts im Verhältnis zu den großen. Aber die großen begannen immer mit sich langsam hochschaukelnden, nicht gesehenen, ignorierten und daher auch nicht rechtzeitig befriedeten Konflikten.
Leipzig, 27. Februar 2022
*
Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“. Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de.
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.