top of page

Beate Broßmann: RUHRKENT. EIN ROMAN VON C.M.

Auftakt einer mehrteiligen Reihe. Unter dem Begriff „oppositionelle Prosa“ fasst Beate Broßmann an dieser Stelle diejenigen Romane der Gegenwart (seit der Jahrhundertwende) zusammen, in denen ihre Autoren von einer anderen Interpretation der politischen und gesellschaftlichen Situation in den europäischen Ländern der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit ausgehen als sie von der herrschenden politischen Schicht vorgenommen und dogmatisiert wird.


Jeder der zu besprechenden Romane wird danach befragt, welchen Aspekt der realen Entwicklung er thematisiert, auf welche Weise er dies tut und ob er eine erkenntniserweiternde Qualität aufweist

Einen allgemeinen Fragekatalog, der bei jedem Buch abgearbeitet wird, gibt es nicht, um der Spezifik und Tiefendimension jedes Werkes gerecht zu werden und um dieses aus sich selbst heraus erklären zu können.


1.

Ungeheuerliches besitzt die Eigenschaft, den davon in Kenntnis Gesetzten zu lähmen. Zum einen neigt er dazu, es nicht zu glauben. Wenn es sich um eine gesellschaftspolitische Ungeheuerlichkeit handelt, traut er sie den Regierenden nicht zu. Wenn der Fakt nicht zu leugnen ist, interpretiert er ihn so weit um, daß er vorstell- und handhabbar für ihn wird. Verniedlichen Politiker und Journalisten den Sachverhalt, nimmt er gern diese Interpretationshilfe an. Die Ungeheuerlichkeit in ihrer ganzen Tiefe und Tragik überfordert ihn. Sie stellte, ließe er die Dimension der Ereignisse an sich heran, sein bewußtes und unterbewußtes weltanschauliches Gebäude infrage oder brächte es zum Erodieren. Deshalb weicht er aus, verdrängt, verkleinert, bemäntelt, verharmlost. Erst wenn die kognitive Dissonanz zu halsbrecherisch wird, ist ein Umbau des Konstruktes der Grundannahmen und Überzeugungen nicht mehr zu umgehen. Hatte Machiavelli doch schon den Politikern ins Stammbuch geschrieben: Wollt Ihr Ruhe vor Eurer Bevölkerung haben, geht dreist und maßlos vor. Kleine Gehirne scheitern an großen Dingen. Den Menschen fehlen Phantasie und Sachkenntnis, um ermessen zu können, was dieser Einschnitt für ihr persönliches, ihr privates Leben bedeutet. Fangt klein an, serviert ihnen Häppchen. Sie werden sie schlucken und sich an weitere gewöhnen. Was am Ende des Auftürmens von Quantitäten stehen wird, können sie sich nicht vorstellen.





Es bedurfte der Lektüre des Romanes „Ruhrkent“, der 2014 im Telesma Verlag erschienen ist, 2020 neu aufgelegt wurde und aus der Feder eines Autors stammt, der sich hinter zwei Buchstaben verschanzt: C.M. . Dieses Buches also bedurfte es, damit ich glaubte und verstand, um welche Dimension des Einschnittes es sich bei dem seit 2015 in Gang gesetzten Prozess seinem Wesen nach handelt: Er ist in seiner Bedeutung für die deutsche Geschichte eine Ungeheuerlichkeit von der Dimension der Art und Weise, wie Ostdeutschland als Staat aufgelöst und in die Bundesrepublik überführt worden ist zum einen, was an Unglaublichem im Dritten Reich geschah zum anderen. Und dieser, der jüngste Einschnitt, ist – unter anderem – eine Reaktion auf den Zivilisationsbruch von 1933-1945. Zusammenhänge, die zu vermuten waren, treten nach der Lektüre mit vollkommener Klarheit, als Erkenntnis, ins Bewußtsein.


Mir wurde durch die Rezeption des Romans klar, daß auch ich zu Beginn des Überfremdungsprozesses nicht fähig gewesen war, die drastischste Lesart der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre als die richtige, die zwingende zu akzeptieren. Vielleicht übertreibe ich ja, dachte ich immer wieder, wenn Gesprächspartner kein Übel erblicken wollten oder konnten, wenn immer wieder und überall im Land Flüchtlingsunterkünfte gebaut wurden und die Willkommenskultur kein Ende nahm. Fast kein Protest. Pegida: eine leicht zu denunzierende Routineveranstaltung, von Indianern losgetreten, die noch nie Fremde zu Gast hatten. Provinzler aus der Unterschicht. Vielleicht wird alles gar nicht so schlimm, und ich habe möglicherweise eine Angststörung, werde von einem Ressentiment geleitet, und mein Blick ist getrübt. Vielleicht genießen die Eindringlinge ja jetzt ihr gut gepolstertes Leben, sind friedlich in ihrem Glück und lassen uns ganz einfach in Ruhe. Weltweites Kalifat? Die doch nicht! Die sind genauso vom Konsum korrumpiert wie der ganze Westen. Für großen Organisationsaufwand verlangende Aktionen fehlt es ihnen sowieso an Voraussetzungen. Und ein paar Eiferer gibt es immer, in jeder Religion. Daß der Türkenführer Erdogan die deutschen Landsleute dazu aufruft, sich nicht zu assimilieren und Islamisten für Hamas und den Untergangs Israels demonstrieren: große Schnauze und nichts dahinter. Nichts wird so heiß gegessen…Und dann doch immer wieder die banale und basale Grundfrage: Spinne ich oder spinnen alle anderen? Ist man kein Narzißt, liegt die Antwort auf der Hand. Erst wenn man, sich vorsichtig vortastend, erfährt, daß man nicht allein ist mit seiner Bewertung der Situation, traut man sich und seinen Gefühlen allmählich wieder über den Weg.


2.

Genau diese Verunsicherung prägt den Umgang des Ich-Erzählers Henning Gerald Peters, 74 Jahre alt, dessen Name wir erst auf Seite 56 erfahren, mit der neuen Wirklichkeit. Wir schreiben das Jahr 2036. Als alle Bekannten aus Duisburg wegzogen, nachdem die Stadt in Düskale umbenannt und in ein „Friedlich-Freies Demokratisches Autonomiegebiet von Ruhrkent“ eingemeindet wurde, blieb er stur dort wohnen und gab dem Drängen von Frau und Sohn, doch wegzuziehen, nicht nach. Die bürokratische Drangsalierung bestimmter Bevölkerungsgruppen: Lappalien, die das Leben kaum beeinträchtigten. Die unterschiedlichen Freiheitsgrade, die je nach „Abstammungsklasse“ gewährt wurden: Meine Freiheit genügt mir. Die Mitbürger nicht provozieren durch zu hohe Stöckelschuhe der Ehefrau oder den vollständig und mit großen Buchstaben angebrachten Namen an der Eingangspforte: Rücksichtnahme ist eine löbliche soziale Eigenschaft. Daß man sich mittlerweile überall in Ruhrkent mit dem türkischen „Selam!“ grüßte, was „Frieden“ oder „Heil“ hieß: dagegen war doch nichts zusagen. Eine Summe von Bagatellen, das war die neue Zeit. Was die kleinen Einschnitte für den Charakter des Ganzen bedeuteten, daran wollte er nicht denken. Er sah den Wald vor lauter Bäumen nicht. Seine Frau und er „hielten es aus. Wir hatten uns hier arrangiert“. Und die Analogie zu anderen Regimen, in denen eins zum anderen gekommen war und man sich – angeblich – unvermittelt in einer Diktatur wiederfand, in der bestimmten Bevölkerungsgruppen überhaupt keine Bürgerrechte mehr zugestanden wurden – diese Analogie zog er nicht. Etwas in ihm sträubte sich dagegen.


Und dann, plötzlich, aus heiterem Himmel, als er turnusgemäß einen neuen „Weil- und Wohnerlaubnisantrag“ stellen mußte, stach ihn der Hafer: Statt zum x-ten Mal in der Rubrik „Geburtsort“ seines Formulars „Düskale“ einzutragen, schreibt er „Duisburg“. Der Schalterbeamte, ein Mann von „aufgesetzte(r) Biederkeit“ und „spröder Spießigkeit“, „verstockt und hölzern“, hält ihm ein frisches Formular hin. Und da kämpft es in ihm: Stolz gegen Angst und Bequemlichkeit. Der Stolz gewinnt, schraubt sich hinauf zu Trotz, und er malt quer über das ganze Formblatt mit Großbuchstaben die alte Bezeichnung „Duisburg“. Daraufhin wird er wegen Volksverhetzung angeklagt. Es war ihm noch beim Schreiben klargeworden, daß er zu weit ging, und die Angst vor seiner eigenen Courage war jede Sekunde präsent. Während er sich eigene Gedanken gemacht, „ahnungsvoll und grüblerisch“, und sich doch permanent selbst beschwichtigt hatte, sammelte sich in seinem Inneren so viel Magma an, sobald er das Haus verließ oder die Zeitungen und Verlautbarungen las, daß es einmal zu einer Eruption kommen mußte. Zeitpunkt und Anlaß waren nicht vorauszusehen. Es konnte eine Kleinigkeit sein. Und als der völlig humorlose Beamte mit scharfem Blick aus „kalten, harten Augen“ ihm das Formular aushändigte, brach der Vulkan aus. Von da an ist er sich selbst nicht mehr geheuer. Denn sein Selbstbild bezeugte einen Mann von ausgeglichenem, ruhigem Charakter und „selbstbeherrschtem Gleichmut“.


Der Roman ist ein Dokument der Recherche und der Selbstbefragung des Delinquenten, wie es so weit kommen konnte mit ihm und mit der Welt. Eine Studie der individualpsychologischen Seite eines revolutionären, nicht gewollten und nur erlittenen fundamentalen Gesellschaftsumbruchs. Er ist gemäß den Stufen des juristischen Verfahrens gegen den Ich-Erzähler aufgebaut. Die Hauptkapitel sind entsprechend überschrieben mit „Der Angeklagte“, „Der Verteidiger“, „Der Staatsanwalt“ und „Der Richter“. Innerhalb eines jeden Kapitels findet sich ein Monolog des Genannten, den er dem kaum reagierenden Angeklagten hält, und es werden kleine Geschichten erzählt aus dem Leben des alten Mannes, meist Erinnerungen, die den Gang der Dinge beleuchten und wie Puzzleteile ein Gesamtbild entstehen lassen.


So erfahren wir beispielsweise von einer Protestversammlung gegen den Bibliotheksleiter, der sich weigerte, „abartige, mißratene und verletzende Bücher“ aus den Lesesälen zu entfernen, woraufhin die Bibliothek geschlossen wurde, und von Schülermärschen für eine Reform des Geschichtsunterrichtes. Man wollte nichts mehr von Bismarck, Sokrates, Platon, Aristoteles wissen. Das seien „Nazis“ und „eurocentrische Ganoven“. Sie zu lehren, sei ein „Zeichen von Erasmus und Rassismus“. Von einem „Fachmann für Vergangenheitsbeglaubigung“ waren die vermittelten Gedanken dieser historischen Größen zudem als Fälschungen entlarvt worden. Im „Selbstverhaltenskurs“ der Volkshochschule konnte man die neuen Benimmregeln erlernen, die in Form von „Redewendungsmehrheitsweisungen“, „Erträglichkeitsgeselligkeitsverordnungen“ und „Äußerungsgesittungsregulierungen“ vom „Amt für Öffentliche Ausdrucksprägung“ erstellt worden waren. Eine Kirche wurde zur Moschee umgerüstet. Weihnachtliche Gebräuche durften im Verborgenen gepflegt werden, aber in der Öffentlichkeit nicht sichtbar sein. Und dennoch: „Unser Land, dozierte ich, ist ein sehr altes Land, ein starkes Land, auf das man bauen und getrost vertrauen könne, in der Tat, es sei ein Land des Rechts, der freien Wahlen und der freien Rede, schwärmte ich, nicht eine triste Tropeninsel, vollgestopft mit buntem Firlefanz aus Götzenbildern, abergläubischen Tabus und einer zwielichtigen Garde, die nur Speis und Trank und Hurerei im Sinne hatte und das Volk derweil verdursten ließ.“


3.

An dieser Stelle konnten wir auch einen ersten Blick auf den ausgefallenen Stil, in dem der Roman verfaßt ist, werfen: teils tiradenhaft wie Thomas Bernhards Spiralsätze, teils verschachtelt und im Zuge des Satzverlaufes immer mehr ins Detail gehend und in die Tiefe bohrend, wie wir es aus der deutschen Literatur des vorletzten Jahrhunderts kennen. Ein zugespitzt anachronistischer Text.

Man kann den Roman aber auch als gelungene Satire lesen und sich köstlich amüsieren: „Sonderrechtsverwaltungszonenmaterial“, „Siedlungshintergrundszertifizierung“, „Agentur für Binnenruhe“, „Direktorium für Städtische Beschönigung“ – wer denkt da nicht an das „Gute-Kita-Gesetz“ oder das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“?


Die Dinge schienen sich auch wieder zu beruhigen. Die Feuerwehren führten Kommissionen ein, in denen sie sich mit den Brandstiftern in langen Sitzungen berieten, wie die Brände künftig rascher und in immer engerer Zusammenarbeit mit den Tätern zu bekämpfen seien…“ Biedermann und DITIB lassen grüßen. Auf einer Kundgebung ist der Präsident der Republik zu nichts anderem fähig, als im Abstand von fünf Minuten zwei Worte hervorzupressen: „Friedheit“ und „Frohhaft“, und die Masse johlt begeistert.


4.

Und dann nimmt der Prozeß seinen Lauf. Wir werden Zeuge eines Tagesablaufes im Leben unseres verhinderten Helden. Mit dem Taxi fährt er zu Gericht. Der Fahrer, ein Mitglied der „tunesischen Bewertungsklasse“ ist der Erste, der auf ihn einspricht, indem er über die unhaltbaren Zustände in Ruhrkent schimpft: über die verkommene, schlampige Verwaltung, verrottende Straßen,  Industriegebäude und Infrastruktur, über die dem Müßiggang frönenden jungen Männer, die Cliquenwirtschaft, das nichtsnutzige Parlament, bestehend aus maghrebinischer Fraktion, syrischen Verbänden, usbekische, libanesische, jemenitische Vereinigungen und ottomanischen Parteien, „die sich plusterten und um das Pult herumstolzierten“. Wie sehe sein Fahrgast denn die Lage? Dessen Reaktion ist aufschlußreich: „Ich gab ausweichend, wie üblich meine wohlgewählten und auf Einwandfreiheit, reibungsarme, stumpfe Glattheit, Kantenlosigkeit geschliffenen Entgegnungen, die ich mir routiniert auf derartige Fragen griffbereit zurechtgelegt und nahtlos, um nicht aus Versehen anzuecken, bis ins Feinste hingebogen hatte.“ Das ist seine Strategie für den gesamten Tag. Der eigentliche Held des Buches ist die Sprache.


Der deutscher Anwalt Dräger, Fachmann für Gesetze der Autonomie, ist abgeklärt und pragmatisch und versteht das Verhalten seines Mandanten nicht. Dieser gibt sich allerdings auch keine Mühe, verstanden zu werden. „Ich hatte keine Gründe“, antwortet er in Bartlebyscher Manier auf Drägers Frage. Der rät ihm, händeringend Reue zu bekennen und zu lügen. Das sei für alle die einfachste und beste Lösung. Als ob es auf Bezeichnungen ankäme! Peters‘ Trotz helfe doch keinem! Und dann erteilt er dem „Widerspenstler“ eine Lektion in Sachen Ruhrkentsche Gesetze. Er erweist sich als Legalist reinsten Wassers. Die gesellschaftlichen Verhältnisse interessieren ihn nicht. Das ganze Land „sei doch auf Trug gebaut, auf einem regelrechten Sumpf aus List und tückischen Erstunkenheiten, Doppelzüngigkeit und schlau geklitterten Verfälschungen, Verdrehungen“. Wenn nur alles juristisch sauber und ohne Verfahrensfehler geregelt sei, müßte ein jeder zufrieden sein. Nur das formale Recht bewahre den Frieden und die Bürger vor Zeter, Mordio und Absturz in die Barbarei. Deshalb sei Peters ein Störenfried und Schädling, der seine „Wahrheiten“ gefälligst in seinem Kopf behalten solle, wo sie hingehörten. Der Delinquent gelangt zu der Erkenntnis, daß Drägers Recht nicht sein Recht ist.


5.

Und jetzt folgt der Höhepunkt des Romans. Der kluge Staatsanwalt Ismail nutzt die Delinquenz des Angeklagten, um dem konsterniert Lauschenden sein ganz spezielles Verhältnis zu den Deutschen darzulegen, um mit einer Frage zu enden.


Völlig aus der Art geschlagen, interessierte sich der in Deutschland Geborene brennend für seine indigenen Mitbürger, las alles, dessen er habhaft werden konnte (das wurde mit der Zeit immer weniger) über Geschichte, Kultur und Philosophie dieses offenbar recht alten Volkes. Besonders die tiefen Gedanken über Vernunft und Natur hatten es ihm angetan. Und sogar eine weiche und zarte Sprache zu besitzen, attestierte er den Deutschen. Es folgt eine „So-kam-ich-unter-die -Deutschen“-Tirade vom Feinsten. Denn kaum hob er seine Nase vom Buch und studierte die Menschen selbst, berichtet Ismail, konnte er nur verständnislos den Kopf schütteln: Der Deutschen Leben erschien ihm schieflagig, das Pferd ständig von hinten aufgezäumt: „Eure Kinder schalten ihre Eltern, eure Lehrer hatten Furcht vor ihren Schülern, eure Alten wurden nicht geachtet, eure Jungen nicht geleitet, eure Männer wollten keine Männer sein, und eure Frauen wollten keine Frauen sein…“. Und wenn er sich erkundigte, was diese umgestülpte Weltsicht bewirken sollte, antworteten sie in einem unverständlichen Kauderwelsch. Sie sprachen von Mündigkeit, Entfaltung und Freiheit, wirkten aber eingeschüchtert und gehemmt, als müßten sie erst noch laufen lernen. Sie waren „von würdeloser Lust, sich wertlos preiszugeben“ und warfen sich jedermann an den Hals. Mit den schlimmsten Schurken und gerissensten Halunken unter Ismails Landsleuten setzten sie sich an einen Tisch. Fast noch befremdlicher war die besessene Beschäftigung mit den Jahren „eines dunklen Damals“, das Sich-Gerieren „als in Ewigkeit verdammter Übeltäter per Geburt“. Und sie schienen sich in dieser Rolle wohlzufühlen. „Nach und nach erkannte ich somit, je mehr ich mich auf euch und euer Leben einließ, euer, wie mir schien, verstörtes, von der Welt zutiefst verwirrtes Wesen und begann, mich abzuwenden und enttäuscht den Kopf zu schütteln.“ Er koppelte sich, wie es alle Eindringlinge wie selbstverständlich taten, von den Deutschen ab, weil er auf deren Seite nur verlieren konnte. Die eine Frage aber hatte ihn nie losgelassen, und er wolle sie jetzt ihm, dem Möchtegern-Rebellen H.G. Peters, stellen: Warum habt Ihr euch, als Krethi und Plethi in euer Land eindrang und von euch ohne Gegenleistung versorgt werden wollte, euch belog und betrog und euch Gewalt antat, euch entweder haßte oder verachtete und verhöhnte – warum habt Ihr euch nicht gewehrt? „Worum…ging es eigentlich für euch bei diesem bis zum Äußersten, extremen, radikal getriebenen Gesellschaftsspiel?


Doch der Angeklagte würdigt ihn keiner ehrlichen Antwort. Die Dinge seien eben ihren Gang gegangen, sie seien gekommen, wie sie eben gekommen waren. Tautologische Nullsätze. “…der ganze Werdegang, das heißt: was uns noch blühen sollte, was noch anstand und noch kommen würde, das sei seinerzeit nicht absehbar gewesen, und wir hätten einfach nichts davon gewußt.“, versucht er, dem klugen Staatsanwalt weiszumachen. Der läßt sich damit natürlich nicht abspeisen. Aber den Fortgang der Suada der Verständnislosigkeit und den Ausgang des Verfahrens lese der Interessierte bitte selbst nach.


Mit unvergleichlicher Konsequenz und Drastik führt der Autor von „Ruhrkent“ uns die Ungeheuerlichkeit des bereits 2014 absehbaren Prozesses vor Augen und versucht, dessen innere Logik zu ergründen: Einem zutiefst verunsicherten, identitätsgestörten, von seiner eigenen Geschichte traumatisierten Volk fehlen Orientierung, Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit, Abwehrkräfte und Motivation, um sich gegen Ungeheuerlichkeiten zu wehren, ja sogar die Fähigkeit, sie als solche zu erkennen. Es weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Es schwankt zwischen Größenwahn und Selbstverachtung und hat seinen inneren Kompaß verloren. Es gibt sich – wie aus Versehen – zum Abschuß frei: eine durch Lähmung induzierte Bereitschaft zum kollektiven Selbstmord.


6.

Je tiefer man in diesen Roman eindringt, desto stärker wirkt seine künstlerische Gestaltungskraft und Gedankentiefe. Man muß ihm Zeit schenken, manches zwei- oder auch dreimal lesen. Dafür wird man reich belohnt.


Und man fragt sich zum Schluß: Wer, um alles in der Welt, ist C Punkt M Punkt?


C.M.: Ruhrkent. Telesma: Treuenbrietzen 2014. 23 €


*


Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.


Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de 





                                       Hier können Sie TUMULT abonnieren.

                                     Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.


bottom of page