Der führende Kopf der österreichischen Identitären Bewegung Martin Sellner baut sein Buch auf zwei Axiomen auf:
Ohne Kulturrevolution von rechts, also ohne die Gewinnung der kulturellen Hegemonie en général und der in Sachen Migration en détail, gibt es kein Deutschland mehr. Und ein Österreich auch nicht.
„Das rechte Lager ist tatsächlich oppositionell, weil es die entscheidenden ideologischen Grundlagen von Marxismus und Liberalismus (Individualismus, Egalitarismus, Progressivismus) ablehnt und Volk und Nation nicht nur als politische Daseinsformen erhalten will, sondern als Wert an sich betrachtet.“ (Seite 184)
Ohne Reconquista ist für Sellner alles nichts. Was sonst noch an politischen Fragen diskutiert und eingebracht werde und werden müsse, sei im Augenblick sekundär. Dem strategischen Hauptziel sei alles andere unterzuordnen.
Hier bereits könnten Leser, die Sellners Überzeugung nicht teilen, aussteigen. Aber sie sollten die Lektüre dieses Buches, das durch nüchterne Analyse und Systematik besticht, welche mitunter fast schon buchhalterisch wirkt, nicht abbrechen! Eine derartige Zusammenschau und Bewertung aller virulenten rechten Positionen und Aktivitäten im deutschsprachigen Raum lag bislang nicht vor, und man wird bei gründlichem Studium dazu gezwungen, sich seiner eigenen Positionen zu versichern oder sie in Frage zu stellen.
Keine Gewalt!
Als Beispiel will ich Sellners Darstellung und Bewertung militanter strategischer Mittel nennen, die er unter dem Punkt „Leitstrategie 3“ neben dem „Parlamentspatriotismus“ und der „Strategie der Sammlung“ als politischen Irrweg darstellt: Die Leitstrategie „Militanz“ sei nicht nur aus ethischen und weltanschaulichen Gründen abzulehnen, sie sei auch strategisch falsch: Sie arbeite gegen die Fließrichtung des geistig-kulturellen Widerstandes und stärke damit die Autorität des repressiven Staatsapparates. Sie „legitimiert Repression und begünstigt die ideologischen Staatsapparate. So schadet Militanz der metapolitischen Arbeit und der Massenbasis der Opposition.“ (133) Die Militanzstrategie sei bei vielen beliebt, weil sie effektiv einem tiefen Ohnmachtsgefühl zu begegnen scheine und die Sehnsucht nach einer „befreienden Tat“ stille. (vgl. 134). Ob in Form von militantem Volksaufstand, Putsch, der „Entsetzung von außen“, Guerillataktik, Königsmord, „postapokalyptischer Machtübernahme“ oder „exzitierender Schwarmterror“:
Das wahre Machtzentrum eines Staates werde fälschlicherweise bei Polizei und Armee [man könnte noch anfügen: Geheimdiensten – die Verf.] verortet, es liege aber tatsächlich im Parlament und der herrschenden Ideologie [und der Regierung – d. Verf.]. (134)
„Wenn ein sanfter Totalitarismus zur offenen Diktatur wird und gegen friedliche Massendemos gewaltsam vorgeht, kann keine Bewegung „militärisch“ standhalten. Ist eine Bewegung metapolitisch so potent, daß eine kritische Masse zum friedlichen Ungehorsam bereit [ist] und ein Regime nicht mehr in der Lage ist, das gewaltsam zu verhindern,…, erübrigt sich ein weiteres militantes Vorgehen ohnedies.“ (139f.)
Militanz unterschätze „die Wirkung der herrschenden Ideologie samt Metapolitik“. „Die demokratische Machtlegitimation ist besonders in westlichen Demokratien sehr stark.“ Die globalistische Elite sei dadurch gezwungen, ihr Bestehen auch weiterhin zu simulieren. Aus einem nationalen Militärputsch in Europa beispielsweise „könnte keine legitime stabile Regierung hervorgehen“. (141)
Es folgen viele weitere Gründe für die Ablehnung jedweder Form von physischer Gewaltanwendung. Wäre man nicht ohnehin schon überzeugt davon, daß Martin Sellner und die „Identitären“ gewaltavers sind – spätestens jetzt kann man sich dessen sicher sein.
Reconquista!
Nach einer umfassenden Darlegung ihrer politologischen Prämissen geht Sellner auf Seite 156 dazu über, die von ihm und seiner „Identitären Bewegung“ präferierte Leitstrategie vorzustellen und zu begründen.
Im Zentrum seiner „rechten Revolutionstheorie“ steht die „Reconquista“. Sellner benutzt zwar den Terminus „Revolution“, schließt aber an die Konservative der zwanziger Jahre, die Friedliche von 1989 und den Maidan an und nicht an die russische Oktober- oder die nationalsozialistische Revolution. Der Autor spricht deshalb auch von einer „Kulturrevolution von rechts“ (158). „Das Ziel der Reconquista ist der Erhalt der ethnokulturellen Identität…Die Aufgaben der Teile des rechten Lagers und ihre Substrategien sowie die Verteilung der Ressourcen sollen den Prinzipien der Reconquista folgen.“ (158f.)
Die Notwendigkeit rechter Parteiarbeit wird dabei nicht infrage gestellt. Aber der Fokus liegt bei diesem Konzept auf den Bereichen Gegenkultur und -öffentlichkeit, Theoriebildung und Bewegung, also Bereiche, die von den „Parlamentspatrioten“ (vulgo AfD und FPÖ) lediglich als sekundäres „Vorfeld“ angesehen würden. „Eine zu enge Bindung der Partei an die Bewegung ist für beide Seiten nicht wünschenswert und kann schädlich für die Zusammenarbeit sein.“ (222) Die Bewegung sei das Schwerezentrum der Reconquista und unterteile sich „in aktionistische junge Avantgarde…und massebasierte Protestbewegung“. (218) Aha: Avantgarde! Totgesagte leben länger.
In aller Bescheidenheit schätzt Sellner ein: „Der Bevölkerungsaustausch muß in der Zivilgesellschaft als Hauptproblem anerkannt und die Remigration als Lösung akzeptiert werden. Die Reconquista ist damit die richtige Schlußfolgerung aus einer richtigen Systemanalyse.“ (159)
Zwischenziel bzw. Mittel zur Erreichung des genannten Hauptziels sei die Erringung der metapolitischen Macht bzw. Hegemonie. Letztere „definiert sich dadurch, daß eine Mehrheit der Machtunterworfenen freiwillig, aus Glauben an die Herrschende Ideologie, kooperiert. Dieser Glaube läßt die Machthaber legitim erscheinen und macht den Gehorsam zur moralisch wahrgenommenen Pflicht.“ (174) Mit Gramsci und von Waldstein teilt der Autor die Überzeugung, daß sich parlamentarischer Erfolg früher oder später automatisch einstelle, hat man den Kulturkrieg, also den „um die Köpfe“, einmal gewonnen. „Im umgekehrten Falle, also dem Eintagserfolg einer politischen Partei ohne eine solide kulturelle/metapolitische Verankerung im Wahlvolk, verschwinde[t] die nominelle Machtstellung durch ein Parlamentsmandat in der Regel genauso schnell wie sie entstanden [ist].“ (160) Die „people power“, wie der linke Vordenker der amerikanischen „nonviolent action“ Gene Sharp die metapolitische Macht nennt, müsse nicht die Mehrheit eines Volkes oder einer Bevölkerung umfassen. Wenn nur fünf Prozent in eine Widerstandsbewegung involviert sei, betrage die Wahrscheinlichkeit eines kulturellen Hegemoniewechsels sagenhafte 90%, wie empirische Untersuchungen ergeben hätten. (vgl. 162) Die Masse bedarf allerdings der Ergänzung durch Botschaft, Leitstrategie und Organisation, d.h. diese müßten ein harmonisches Ganzes bilden. Mit kalkulierten, anschlußfähigen Provokationen und „Schocks“ erreiche man eine langfristige Diskursverschiebung, wenn man es verstehe, die „vorgelagerten Begriffsposten gegen den Druck“ (169) zu halten. Das linke Lager könne nach rechts in Richtung einer „neuen Mitte“ getrieben und zur Übernahme moderater rechter Positionen genötigt werden. (vgl. 170) Solche „Begriffsposten“ sind laut Sellner: ethnokulturelle Identität, Volk, identitäre Familienpolitik, identitäre Demokratie, identitäre Verfassung, Migrationsquoten, Leitkultur, Remigration, Deislamisierung, Bevölkerungsaustausch, Ersetzungsmigration, Ersetzungsgeburten, Demokratiesimulation, Schuldkult. Dekonstruiert werden sollten die gegnerischen ideologischen Begriffe Multikulturalismus, Toleranz, Diskriminierung, Egalitarismus, Individualismus, Menschheit, Fortschritt. (vgl. 172) Die Verschiebung des „Overtonfensters“ müsse gegen die Widerstandsformen des Systems – als da wären: Repression (sozialer, wirtschaftlicher, terroristischer und juristischer Druck) und Resilienz (Ablenkungsmechanismen und Sedierung mittels Propaganda, Konsum, Karriere und Zerstreuungsmöglichkeiten) – durchgesetzt werden. (vgl. 172f.) „Erst wenn die Herrschende Ideologie geistig wirkungslos geworden ist und die ideologischen Staatsapparate aussetzen, kann es zu massenhaften „Gehorsamkeitsausfällen“ im Repressiven Staatsapparat kommen, der sonst spielend mit jeder „Revolte“ fertigwird.“ (180)
Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es eines langen Atems. Auf Krisen als Katalysatoren sollte die Rechte dennoch nicht setzen, denn diese könnten von vielen politischen Akteuren benutzt werden, auch vom Staat.
Social Change
Die rechte Einheitsfront – denn nichts anderes ist es, das der konzeptionelle Vordenker der Identitären erreichen möchte – peilt einen „Social change“ an, indem sie die demokratische Behauptung ernst nimmt. Halten sich die Machteliten an ihre eigenen Spielregeln, „so müssen sie eine Verschiebung der öffentlichen Meinung durch metapolitische Arbeit hinnehmen“ und die sich daraus ergebenden politischen Veränderungen akzeptieren. (184) Der Modus des „Social change“ sei das Standardmodell der Reconquista-Leitstrategie. „Hier kann die Bewegung zentral organisiert und transparent auftreten und so maximal anschlußfähig sein.“ (189) Einen „Social change“ hält Sellner deshalb für zielführend und wünschenswert, weil er den Bevölkerungsaustausch nicht als Ausdruck eines Systemversagens interpretiert, sondern als Versagen der politischen Klasse und der Intellektuellen. Doch es ist zu konstatieren, daß diese politische Klasse bereits jetzt, am Beginn des Diskurswechsels, repressiv reagiert. Trotz des durchweg friedlichen Charakters aller neurechten Aktivitäten bezeichne man diese als „nazistisch“ und „extremistisch“ und behandele sie auch so. Sellner zufolge befinden wir uns gegenwärtig noch im Schwebezustand zwischen Demokratiesimulation und offenem Totalitarismus. „Erst wenn nicht nur die IB und die AfD verboten, die rechte Gegenöffentlichkeit zerschlagen, sondern auch die Kritik des Bevölkerungsaustausches juristisch verboten ist, können wir meiner Meinung nach von einem offenem Totalitarismus und einem notwendigen Regime change sprechen.“ (186) Noch sei es aber nicht so weit, was auch an den Rechten selbst liege: „Die ersten Ansätze einer Reconquista-Strategie haben noch einmal [die] den nötigen Organisationsgrad, eine umfassende Kooperation, Einheit der Botschaft und Strategie im rechten Lager erreicht. Noch gibt es einen großen, ungenutzten Handlungsspielraum für rechten Aktivismus, der ausgelotet werden kann. Nicht die Repression, sondern die eigene Unfähigkeit, Desorganisation und Ziellosigkeit sind derzeit die größten Hemmnisse…Der Gegner wurde noch nicht einmal dazu genötigt, einen Meinungsparagraphen gegen Migrationspolitik zu erlassen, weil ihr Störfaktor für seine Politik nicht hoch genug war.“ (192)
Aber auch im Fall der offenen Diktatur bleibe die Leitstrategie „Gewinnung metapolitischer Macht“ gültig, und man dürfe weder in die Falle der Resignation einerseits, noch in die der Militanz andererseits tappen. (vgl. 188) Durch metapolitische Arbeit müsse die Autorität des diktatorisch gewordenen Staates so weit untergraben werden, daß er seine Zwangsgewalt nicht mehr einsetzen kann. (vgl. 193) Mit der Kriminalisierung des neurechten Hauptzieles würde sich allerdings zwangsläufig die Organisationsform der Bewegung ändern. „Es muß ein neues, ausgewogenes Verhältnis zwischen Selbstschutz durch Intransparenz und öffentlichkeitswirksamem Auftreten gefunden werden.“ (189) Und mit dem Ziel eines „Regime changes“ gehe es dann nur noch um den Sturz einer Diktatur – auf gewaltfreie Art und Weise. Eine kritische Masse auf der Straße soll das System mit „gewaltlosem Zwang“ dazu bringen, die Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit wiederherzustellen. (vgl. 190f.) Geschehe dies, müßte der Widerstand bereit sein, auch wieder zu seinem priorisierten Konzept des „Social change“ zurückzugehen.
Von der Theorie zur Praxis
Im Folgenden stellt Sellner en détail praktische Antirepressionsstrategien dar, wobei er auch auf psychologische Tricks, Manipulationsmanagement und Marketingstrategien erfolgreicher Unternehmer nicht verzichtet, zum einen, um die Widerständler bei der Stange zu halten und zum anderen, um die „people’s power“ zu stärken.
Hierauf folgt die Konkretisierung seines Plans zur Umsetzung der Reconquista-Strategie, die drei Phasen umfaßt. Man liest beispielsweise von Themen-, Proxy-, Veränderungs- und Image/Profilierungskampagnen, von Interventionen, Demonstrationen, Okkupationen und Disruptionen und meint, ein politisch neutrales Kompendium der aktuellen politischen Widerstandsformen in den Händen zu halten – denn ein solches ist Sellners strategische Skizze auch.
Das Buch endet mit fünf Ratschlägen für den tapferen (jungen) Aktivisten: Wie kann man sich als einzelner „fit for fight“ machen?
Ein bisschen Lenin
Die identitäre Strategie ist gut ausgedacht und begründet, ja regelrecht ausgeklügelt und in sich stringent. Dieser Vorzug offenbart zugleich die Schwäche eines solches Konzepts: Es läßt den anderen rechten Milieus keinen Spielraum. Übernehmen diese nicht vorbehaltlos das identitäre Programm samt seiner politischen Theorie und spielen sie nicht die ihnen darin zugedachte Rolle, tragen sie die Schuld am migrationsbedingten Untergang der beiden deutschsprachigen Nationen, gibt der Martin Sellner ihnen zu verstehen. Alles Denkbare, jede Eventualität scheint von ihm gedacht und berücksichtigt zu werden. Er schöpft aus einem reichen Erfahrungsschatz als führender und langjähriger Aktivist. Das Konzept wirkt hermetisch und wie in Stein gemeißelt. Im Grunde kann sich kein Mensch der überwältigenden Logik des Werkes entziehen. Aber werden sich die Vertreter der anderen rechten Milieus, und insonderheit die Parteimitglieder, umstandslos dieser Logik beugen? Werden sie begeistert und erleichtert ausrufen: Du bist der Klügste von uns und der Kompetenteste, also wollen auch wir klug sein und machen, was Du sagst? Ist nicht auch im rechten „Lager“ mit den allgemeinmenschlichen Schwächen zu rechnen, zu denen Besserwissen, Geltungsdrang, Prestige, Wohlstandsgier und Stolz zählen, wie Konservative nicht müde werden zu betonen? Verantwortungsbewußtsein ist bei heutigen Politikern jedenfalls eine sekundäre Tugend. Die nicht unerheblichen Redundanzen und zahlreichen Zusammenfassungen zeugen zudem von einer kaum verhohlenen pädagogischen Intension, die nicht bei jedem Leser gut ankommen wird.
„Kraft der „aktivistischen Autorität“ wirkt die Bewegung auch als Integrationsfigur zwischen libertären, sozialistischen, atheistischen, heidnischen, katholischen, futuristischen, traditionalistischen etc. Milieus des rechten Lagers.“ (224f.) und „Die Bewegung in Form der Avantgarde ist so im Idealfall in der Reconquista Korrektiv, Impulsgeber, Autorität und Leitfigur des gesamten rechten Lagers. Sie ist das organisatorische Zentrum und geht ihm voran.“ (225)
Werden, wenn sie solche quasileninistischen Sätze von Martin Sellner lesen, die Parlamentarier nicht rufen: Soll der Jungspund doch erst einmal parlamentarische und Parteiarbeit machen, damit ihm sein Hochmut vergeht! Die Gründe dafür, warum es bislang zu keiner gemeinsamen Strategie des rechten Lagers gekommen ist, sind ja mit diesem Buch nicht obsolet geworden.
Wirkung mit Gift
Maximilian Krah hat ein weltanschauliches Buch über und für die Neue Rechte verfaßt, Martin Sellner und Manfred Kleine-Hartlage Bücher über Strategien und Taktiken der neurechten Bewegung. Sie ergänzen einander, aber stehen auch für unterschiedliche inhaltliche Positionen und Prioritätensetzungen. Drei Angebote für qualifizierte Diskussionen.
Kleine-Hartlage begrüßt Sellners Buch euphorisch und schreibt an den Autor: „Wenn das Gros der oppositionellen Rechten sich auf den Boden Deiner Konzeption stellt – und alles andere wäre ja verrückt! –, dann kann niemand mehr ernstgenommen werden, der sich dieser Begrifflichkeit nicht bedient, selbst wenn er inhaltlich anderer Meinung ist.“
Es gibt eine Form von Lob, die wirkt vergiftend, auch wenn der Lobende das Gegenteil intendiert.
Martin Sellner: Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze. Antaios Verlag: Steigra 2023. 304 Seiten, 20 €
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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de
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