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Beate Broßmann: RED PILL. EIN ROMAN VON HARI KUNZRU

Hari Kunzru, 1969 geboren, ist ein britisch-indischer Schriftsteller, von dem bislang sechs Romane auf Deutsch erschienen sind. Dennoch ist sein Bekanntheitsgrad steigerungsfähig. „Skin colour“ spielt bei ihm oft eine Rolle. Doch seine fiktionalisierten Reflexionen sind tiefschürfender und von relativ hoher sprachlich-literarischer Qualität. „Red Pill“, sein vorletzter Roman, ist er auf irritierende Art „klassisch“ postmodern, ein später Ausläufer dieser Literaturgattung. Was sein „oppositionelles“ Potential betrifft, so steckt es in der Thematisierung und Problematisierung des Wesentlichen unserer Epoche: in den Auseinandersetzungen über politisch-weltanschauliche Fragen, die in der deutschen Öffentlichkeit des Hauptstromes tabu sind.





Darum gebeten, kurz zu benennen, worum es im Roman geht, wäre ich in Verlegenheit. Was ich in dieser Rezensionsreihe sonst unterlasse, Handlungsstränge zu erzählen, muß ich in diesem Fall tun. Denn der Extrakt des Romans liegt in eben dieser Handlung selbst. Ein Bericht über Erlebtes, Getanes und Empfundenes. Es gibt zusätzlich zur Gegenwartsebene keine andere, und dennoch ist der Plot komplex. Diese Komplexität aber wirkt nicht, als sei sie das Ergebnis quasitechnischer Bastelei am Reißbrett, die einen Autor als Schreibschulabsolvent verrät. Sie wirkt eher zufällig, ja geradezu impulsiv und gönnt dem Leser sogar eine Chrono-Logik.


Durch den linskliberalen Überzeugungsfilter drücken


Ein „schauriges Requiem auf die liberalen Eliten“ ist der Roman für den Spiegel-Autor Christian Buß. Das trifft es recht gut. Andere sehen darin eine Krankheits- oder eine Selbstfindungsgeschichte – auch so kann man das Buch lesen. Für mich war das Hin- und Herschwanken des literarischen Ichs zwischen den beiden abendländischen Großideologien der Gegenwart interessant. Das Eindringen zu zahlreicher negativer gesellschaftlicher und politischer Botschaften in den sensiblen Kopf eines amerikanischen Schriftstellers, die es durch den linksliberalen Überzeugungsfilter in seinem Kopf schaffen müssen, um dort neutralisiert zu werden, überfordert den ohnehin unsicheren Zweifler. Die Kritik an seinem „natürlich“ erworbenen Weltbild, das zunehmende Unbehagen mit ihm, das er bislang verdrängt hatte, erhält neue Nahrung, als er in Deutschland weilt und mit Rechtsextremen bzw. Karikaturen von Neurechten zusammentrifft (im amerikanischen Original ist von „alt-right“ die Rede, auf die Kunzrus Portrait sicherlich eher zutrifft als auf die deutsche konservative Rechte).

Wir kennen die jüdisch-bürgerliche Selbstironie eines Woody Allan und die ätzende Kritik des französischen Regisseurs Chabrol an der Bigotterie der französischen Bourgeoisie. Auch die handzahm gewordenen angelsächsischen Achtundsechziger bekamen beispielsweise im zweiteiligen Film „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“ des kanadischen Regisseurs  Denys Arcand (1986/2003) ihr Fett ab.  


Der namenlose Ich-Erzähler aus „Red Pill“, der über die Konstruktion des Ich in der Lyrik schreiben möchte, wird bei seinem Studienaufenthalt in der „Deuter-Stiftung“, die in einer Villa am Berliner Wannsee residiert, mit einer deutsch-gründlichen Umsetzung der neuesten Ausprägung linker Ideologie konfrontiert, ohne sie zunächst als solche zu erkennen: Die Hausregeln sehen vor, daß alle Stipendiaten an der eigenen Arbeitsstation eines Großraumbüros forschen und schreiben. Für die biometrische Identitätskarte wird ein Iris-Scan durchgeführt, einmal wöchentlich ein Protokoll unter der Tür durchgeschoben, das Aktivitäten des einzelnen Gastes auflistet und bewertet: eingeloggte Stunden, erstellte Dokumente, besuchte Websites, Aufenthaltszeit in der Arbeitsstation, Teilnahme an Vorträgen und Diskussionen uvm. Offenheit und Transparenz sind die Grundprinzipien der Einrichtung, ihr Forschungsgegenstand die „zukünftige Entwicklung eines transparenten öffentlichen Raumes“ mit dem Deuter-Zentrum als Mikrokosmos.


„Die Stipendiaten tragen zur Entwicklung ihres eigenen Gemeinschaftsraumes bei, bieten offenen Zugang zu ihrer Entscheidungsfindung und ihrem Arbeitsprozess, teilen Zeit und Ressourcen, verhandeln untereinander und steuern mit ihren Gedanken zum öffentlichen Lernprozess bei. So bilden sie eine existenzielle Gemeinschaft wie auch ein Exzellenzzentrum auf Weltniveau.“, heißt es im Handbuch. Unser Held – ich gebe aus stilistischen Gründen diesem Mann ohne Eigenschaften einen Namen: Daniel – wollte nichts als seine Ruhe und meditative Einsamkeit. Wäre ihm der „radikale Ansatz des Zentrums“ bekannt gewesen, hätte er das Angebot ausgeschlagen. Nach ein paar Tagen stellt er darüber hinaus zufällig fest, daß alle Stipendiaten in ihren Privatzimmern mit Kameras überwacht werden.


„Es war eine Zeit, in der die Medien voller Bilder von verletzten, durch Kriege vertriebenen Kinder war…Was ich sah, erschütterte mich, setzte mir aber auch auf persönlicher Ebene zu: War ich in der Lage, meine Familie zu beschützen, wenn sich die Welt so veränderte?“ Er spürte, „dass unterschwellig irgendetwas falsch lief“. 


Der Wannsee ist an sich ein Ort extremer Referenzen: Kleists Selbstmord und die Planungskonferenz zur Vernichtung der Judenheit (seit Neuestem die banausischen Detektive des Gesinnungsbüros „Correctiv“, die das Tragische auf Farce drehten): dem Sog dieser Gewaltakte kann Daniel sich nicht entziehen. „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!“ Kleist wirkte auf ihn panisch, nervös-empfindlich und wie ein Mann, „der sich verzweifelt mit der Nadel der eigenen Persönlichkeit stach, um eine Reaktion hervorzurufen“. Dazu die erzwungenen Gespräche bei den gemeinsam einzunehmenden Mahlzeiten.  Ein gläubiger Deuterianer breitet auf enervierende Art und Weise seine Überzeugungen aus: Das Recht auf Privatheit sei das Recht auf Lüge, der Nährboden für Betrug und Bestechung. Menschen versuchten immer etwas darzustellen, was sie nicht seien. Entgegen der Behauptung der Liberalen gehe es nicht um eine „heilige Universalie“, die die Menschen zum Überleben benötigten. Das Recht auf Privatleben sei asozial. Um Verbrechen und Terrorismus zu verhindern und die Redefreiheit zu verteidigen, benötige ein Staat Informationen. Der Datenschutz behindere ihre Erfassung. Das habe Deuter verstanden.


Anschwellende Flut des Gangstertums


Ein Angestellter nimmt den Erzähler mit zur Schießgemeinschaft Wannsee, und er assoziiert sofort Tschechows Gewehr – sein „Gehirn schmolz fast, so sehr strengte [er] sich an, das alles zu verstehen“.

In Telefonaten mit seiner Frau Rei in New York versucht Daniel, sie teilhaben zu lassen an seiner Idiosynkrasie. Er braucht sie als kluge Zuhörerin und Ratgeberin. Ob sie seiner Überempfindlichkeit leid ist oder aus anderen Gründen kein Interesse an seinem wirklichen Befinden hat, ist nicht klar. Meist fragt sie nur eindringlich, wie es ihm gehe, und will hören, daß alles in Ordnung ist. „Ich glaube, so wie im Moment muß sich Deutschland in der Weimarer Republik angefühlt haben. Dieses Gefühl, dass da was bevorsteht. Wir müssen mit dem Unerwarteten rechnen.“… „Du redest von den Nazis. Ich lege jetzt auf.“ „Nur einen Moment. Die Leute urteilen nach dem, was sie kennen. Eine radikale Änderung können sie sich kaum vorstellen. Es ist eine kognitive Sperre. Frag dich doch mal ehrlich, was passieren wird, wenn sie an die Macht kommen? Sie hassen uns.“… „Hast Du die Umfragen gesehen? Ich will deine Ängste nicht kleinreden, aber wir kriegen das hin, okay? Wir sind intelligente Menschen. Falls es passiert, werden wir es kommen sehen.“ Besonders entlarvend, was die Oberflächlichkeit linksliberalen Denkens betrifft, ist ein anderes Telefonat mit seiner Frau:


D: Warum glaubst du an die Menschenrechte?
R: Darüber willst du reden?
D: Ja.
R: Ich habe keine Zeit mehr für noch mehr…Schwachsinn. Du bist da drüben. Du sollst dein Buch schreiben.
D: Die Menschenrechte. Warum glaubst du, dass Menschen besondere Rechte haben?
R: Ich habe echt keine Ahnung. Warum reden wir überhaupt darüber? Davon lebe ich. Ich bin Menschenrechtsanwältin. Es ist mein Job.
D: Aber warum?
R: Warum Menschen Rechte haben? Weil sie Menschen sind.
D: Aber warum sind Menschen so wichtig?
B: Du machst mir Angst!
D: Ist es nicht nur eine Fiktion? Etwas, das wir uns einreden?
B: Nein. Wir sind Menschen. Das reicht. Ich lege jetzt auf.

Im Unterschied zu ihrem Mann glaubt Rei an den demokratischen Prozeß, die Demokratische Partei und die grundsätzliche Vernunft der Welt. Für Daniel macht die Präsidentenwahl 2016 nur einen kleinen Teil seiner Sorgen aus. Er sieht die Zukunft düster und gewaltdurchsetzt. „Die anschwellende Flut des Gangstertums schien eine globale Sache. Ich sah keinerlei Vernunft in dem, was kam. Absolut nicht…Ich will meine letzten Jahre einfach nicht damit verbringen, im Müll der Ruinen einer großen Stadt nach Essbarem zu suchen.“ Macht und Geld als Sicherheitsgaranten besitzt er nicht, aber ebenso wenig notwendige Eigenschaften wie Mut, Durchhaltevermögen und Willensstärke. Bevor er Vater war, fühlte er sich sicher. Heute ist er verletzlich wie nie und begreift, daß die Sicherheit der Vergangenheit kein Garant für die Sicherheit in der Zukunft ist.


Immer wieder wird er als Romantiker angesehen und liebevoll belächelt. Aber auch diese Zuschreibung stimmt nur zur Hälfte: „Die Wilden sollten den Anthropologen fressen. Immer. Sie sollten den Botaniker töten, der auf der Suche nach der blauen Blume in den Dschungel gestolpert kommt, denn nach ihm kommen der Geologe, der Landvermesser, der Bergbauingenieur und die Soldaten, um die Bergleute bei der Arbeit zu schützen.“


Mit ambivalenten Gefühlen sieht Daniel sich täglich die in Haiti spielende Serie „Blue Lives“ an. Die Cops „gehörten alle einer Spezialeinheit an und hatten ihren moralischen Kompass verloren. Sie waren genauso schlimm wie die Kriminellen, die sie verfolgten. Alle, Verbrecher wie Polizei, standen im Wettbewerb miteinander, jeder gegen jeden, mit höchsten Einsätzen, und sie begingen Verbrechen widerlicher Grausamkeit.“ Eingebaut hatte der Drehbuchautor solche Zitate von Joseph de Maistre wie „Es gibt keinen Augenblick des Daseins, in dem das lebende Wesen nicht von einem anderen aufgezehrt würde“. Der Mensch „als stolzer und furchtbarer König“ brauche alles, „und nichts widersteht ihm“.


Die Gesellschaft braucht Angst


Bei einem Wohltätigkeitsbasar für „Flüchtlinge“ mit sich anschließender Party lernt Daniel den Drehbuchautor der Serie „Blue lives“, seinen Landsmann Anton, kennen. Die Warnwesten tragenden neureichen Flüchtlingsimitatoren mit ihren Champagnergläsern befremden unseren Mann zwar, aber wie immer, wenn er sich auf seiner Seite der ideologischen Barrikade unwohl fühlt, geht er diesen Empfindungen nicht nach, sondern ignoriert sie. Stattdessen fordert er Rechenschaft vom teuflischen Anton: „Glauben Sie das wirklich? Dass es ein Kampf jeder gegen jeden ist? Dass wir in der Hölle leben?“ Anton: „Was Sie da gleich alles denken, lassen Sie es lieber. Es ist Unterhaltung. Sie nehmen das alles zu ernst.“ Wieso habe Anton dann den Aufwand betrieben, Zitate von Maistre, Heraklit, Schopenhauer und Cioran einzubauen?, kontert Daniel. Seine nihilistische, gewaltstrotzende Vision verhöhne die Würde des Menschen. Menschen sollten immer das Ziel, nie das Mittel sein. Wolle Daniel ihm vorwerfen, daß er die Erlösung weggelassen habe, die für de Maistre darin bestand, Gott zu gehorchen, weil die einzige Hoffnung auf Errettung aus dem irdischen Fleischwolf der Himmel sei? fragt Anton sarkastisch. Daniel käme ihm eher wie ein säkularer Typ vor, der an den Fortschritt, die Religion der Liberalen, glaube. Die Androhung von Gewalt sei die einzige Möglichkeit, die Menschen dazu zu bringen zu gehorchen. Der Henker sei diese Drohung: kein Krimineller, sondern Priester.


„Die Gesellschaft braucht Angst. Das ist unser schmutziges kleines Geheimnis.“ Daniel gehöre zu den Typen, die Moral meinen, wenn sie Politik sagen und umgekehrt. Es gebe Leute die handelten und solche, die die Hände rängen und so täten, als würden sie zu handeln beginnen, wenn sie geklärt hätten, was moralisch sei und was nicht….Tatsächlich hätten sie ihre Handlungsmacht an andere delegiert, an Männer, die keine erstarrten Karnickel seien, sondern täten, was getan werden müsse.“ Und Daniel wisse insgeheim, daß es getan werden müsse. Als die Rede auf Flüchtlinge kommt und Anton auf einer kulturellen Identität seiner Heimat besteht, die er „nicht von Einwanderern beschmutzt lassen“ will, ruft Daniel aus: „Das ist es also? Ein einfacher, altmodischer Rassismus?“ „Und schon ist es so weit! Wir sind aus dem Spiel. Kein Grund mehr, uns zuzuhören“, erwidert Anton. „Ihre Schwäche ist“, spricht er Daniel an, „dass Sie immer von Leuten umgeben sind, die genau wie Sie denken. Wenn Sie jemanden treffen, bei dem Ihre dumme Scham-Taktik nicht funktioniert, wissen Sie nicht, was Sie tun sollen. Ich bin Rassist, weil ich mit Leuten meines Schlags zusammen sein will, und Sie sind ein Heiliger, weil Sie den sentimentalen Wunsch haben, Menschen weit weg zu helfen, wunderbar abstrakten Flüchtlingen, die Sie davor bewahren, sich für eine reale Person oder Sache einsetzen zu müssen.“ Daniel weiß darauf nichts zu erwidern als „Sie tun mir leid.“ Aber wieder allein mit sich konzediert er, daß Antons Vorwürfe gesessen hatten. „War ich einfach nur ein zimperlicher Intellektueller, der zu keinen Taten fähig war? War meine soziale Kompetenz so verkrüppelt, dass ich reale Menschen durch Abstraktionen ersetzte, „schützenswerte“ Flüchtlinge, die ich niemals treffen und mit denen ich mich nie auseinandersetzen musste?“


Anton verschwindet aus der Stadt, nachdem er Daniel mit einem Fluch belegt hatte: „Von jetzt an wohne ich mietfrei in Ihrem Kopf, Sie werden die ganze verdammte Zeit an mich denken.“ Dieser Fluch wirkt, und der Verunsicherte verfolgt von nun an den Teufel durch halb Europa, um ihn zu „stellen“ – wie er selbst meint – und um ihn geistig-ideologisch zu vernichten. „Ein Teil meiner Persönlichkeit war weggebrochen und hatte sich in Antons Kleider gehüllt. …Anton machte mir klar, wie absurd ich mich verhielt.“ Er ist konfus. Ihm kommt seine Mitte abhanden. „Ich brauche ein Zeichen, einen Glücksbringer, etwas, um Anton abzuwehren. Ein Stück festen Boden unter den Füßen, moralischen Halt. Ich mußte mir ins Gedächtnis rufen, warum ich an gewisse Dinge glaubte, und warum ich das Recht, ja die Pflicht hatte, sie zu verteidigen.“  Daniel hat Angst vor sich selbst, seiner Verführbarkeit, Unberechenbarkeit und Bedürftigkeit. Er ist mit dem Verständnis des Erlebten überfordert und reagiert darauf mit einer Obsession.


Instinktiv wählt dieser Anti-Held das größte seiner derzeitigen Probleme, das auch das allgemeinste ist, und schafft sich so einen festen Punkt im Chaos der Welt. Hieran kann er sich abarbeiten. Hier kämpft er einen vermeintlich sinnvollen Kampf, weil er verdrängt, daß er gegen diesen Feind keine Chance auf einen Sieg hat. Doch vielleicht kann er auf diese Weise den Feind in sich selbst besiegen und sich zu einem ernstzunehmenden Mann emporschwingen, der fähig ist, seine Familie zu beschützen?


Doch der Kampf beginnt mit einem Fiasko: Ein Anfall von Gutmenschentum gegenüber einem syrischen Einwanderer und dessen Tochter (Daniel wollte ihnen Geld schenken) wird mißverstanden als ein Versuch von Kinderhandel oder Pädophilie und ruft die Polizei auf den Plan. Vorbereitet wurde diese Hilfsaktion von einem euphorisch-pathetischen Gefühl: Ich „wurde unversehens von einer intensiven, geradezu körperlichen Ergriffenheit erfasst. Einer Welle, einem Rausch. Ich war der Prinz von Homburg! Die Unsterblichkeit war mein…Es würde eine Geste sein, keine großartige, nichts Prahlerisches oder Egoistisches. Etwas Reines, Ehrliches. Ein kleiner Akt der Nächstenliebe in einer kranken Welt.“ Ein moderner Don Quichote, dessen Lebens- und Ich-Gefühle schwanken zwischen Pathos und Lächerlichkeit bis hin zur Verzweiflung – damit verweisend auf die Bipolarität von Manie und Depression.


Bei einer Premiere dreier Videofilme für Produktwerbung in Paris stellt er seinen Teufel. Im Podiumsgespräch offenbart Anton seine Vision: Die Zukunft gehöre denen, die sich qua Intelligenz von der Menge abheben. In fünfzig Jahren würden viele Menschen Überschuss sein, eine unproduktive Biomasse, die mit einer Art allgemeinem Grundeinkommen eingelagert werden müsse. Alles Wichtige werde durch eine kleine geistige Elite von Menschen und KI erledigt, die gemeinsam daran arbeiten, sich weiter zu optimieren. Sei man nicht Teil davon, bringe nicht einmal der Verkauf der eigenen Organe viel ein, da es längst möglich sein werde, sie künstlich zu produzieren. Daniel wirft ihm in der offenen Diskussion vor, daß Antons Serie „Blue lives“ dazu diene, die Menschen weichzuklopfen für solcherart Zukunft, sie mit Horrorphantasien darauf vorzubereiten, es zu akzeptieren, daß eine solche Welt unvermeidlich sei. „Sie sind kein distanzierter Beobachter, der die tatsächlichen Vorgänge beschreibt. Sie arbeiten daran, dass es so kommt, und ich denke,…es sollte etwas getan werden, um Sie aufzuhalten.“ Diese Diskussion entspricht nicht dem leichten, optimistischen Ton der Premiere, und Daniel wird das Mikrophon aus der Hand genommen.


Endkampf, gescheitert


Die letzte Station seiner Irrfahrt führt Daniel auf eine Insel, und dort in eine Berghütte, die Anton gehört, aber gerade leer steht. Hier schreibt er Kladden voll mit seinem Credo des Humanismus gegen Elitarismus, Selbstoptimierung und KI. Aber beim majestätischen Ausblick von hohen Klippen auf Strand und Meer, Antons Ausblick, schlägt der Teufel noch einmal eine Bresche in die gespaltene Seele: „Das Geheimnis war, dass all unser Streben und Tun bedeutungslos ist, dass die Wahrheit der Existenz in einer unablässigen, unpersönlichen Gewalttätigkeit liegt, gnadenlos und ohne jede Art von Gefühl. Diese Gewalt war [ist] weder tragisch noch heldenhaft, weder schrecklich noch erregend oder ungerecht. Sie war [ist] einfach nur.“


Und Antons „Idee des Nordens“ ergreift Besitz von ihm.  „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! …Ich spürte, dass ich der Wildheit und Grausamkeit ganz nah war. Gewalt lauerte in den Wellen, den scharfen Steinen, dem Licht.“ Er erkennt, daß seine Hand dazu geformt ist, ein Messer, eine Pistole, ein Schwert oder einen Speer zu halten, „um einen uralten männlichen Willen auszuführen“. Durch die Schichten seiner Hand erblickt er den „Ur-Muskel“. Der „Schmerz ist das, was es bedeutet, ein Mann zu sein. Das ist die Idee des Nordens“ (die er später als „Mystizismus des Weißseins“ bezeichnet). Auf Anton wartend, den er im letzten Kampf zerstören will, nimmt er die Haltung eines Kriegers an. Er meint, ihn am Strand zu erkennen, aber seiner Ekstase folgt eine kalte Dusche: Es sind drei Polizisten, die ihn wegen Einbruchs verhaften und in die geschlossene Abteilung des nächsten psychiatrischen Krankenhauses verfrachten.


Zurück in New York, dämpfen Antipsychotika seine aus dem Lot geratenen Gefühle. „Meine Ärzte waren grundsätzlich Diener des Status quo. Ihre Arbeit fußte auf der Annahme, dass die Welt erträglich ist, und jeder, der es anders sieht, sollte lernen oder medikamentös dazu gebracht werden, sie zu akzeptieren. Aber was, wenn sie es nicht ist? Was wenn die vernünftige Reaktion ein endloses grauenhaftes Schreien ist?“ – das sattsam bekannte Gründungsdilemma der Psychiatrie, das sich bis heute nicht aufgelöst hat. Auch in dieser Frage hängt, wie bei den unterschiedlichen Zukunftsvisionen, alles vom Menschenbild ab.


Daniels Frau Rei ist ihr Mann nicht mehr geheuer, die Tochter fremdelt. Seine Psychotherapeutin diagnostiziert ein verzerrtes Weltbild. Daniels Besessenheit von einer apokalyptischen Zukunft sei Ausdruck seiner romantischen Sentimentalität – im Sinne von sympathischer Spinnerei. „Akzeptieren Sie, dass Sie einen konventionellen Horizont haben könnten, dass konventionelle Dinge Sie glücklich machen könnten. Hören Sie auf, das Leben zu einem Gedicht zu machen.“ Daniels Kommentar: „Sie sah nicht, was auf uns zukam.“ Das gleiche sagte er schon einmal über seine Frau.


Dienstag, 8. November 2016. Die Wahlkämpfer der Demokratischen Partei kommen in Daniels und Reis Wohnung zusammen und wollen den Sieg Hillary Clintons über den „boshaften und tückischen“ Präsidentschaftskandidaten der Republikaner feiern. Daniel behält seine Bedenken bezüglich Frau Clintons – ihn stört, „was sie mit sich mitschleppt“ und ihre „Neoliberalität“ – für sich. Er organisiert die Party und schweigt, sieht er doch in der „historischen Wahl“ eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Dichotomie erblickt er auch im Existenziellen: der eine Strang steht für die Normalität des Alltags, das berechenbare Leben mit der Familie und den Freunden, das Fortsetzen der Generationskette. Der zweite ist der okkulte Strang, „in dem all diese Normalität ein papierner Schirm ist über etwas Blutigem, Atavistischen, das sich aus der Geschichte erhebt, um nach uns zu greifen. Ich bin die zerrissene Membran, die poröse Barriere zwischen beiden.“ Als im Laufe der Nacht und bei angestiegenem Alkoholpegel klar wird, daß die Demokraten die Präsidentschaftswahl verloren haben, brechen die Partygäste regelrecht zusammen. Überstürzt fliehen sie in ihr Heim und ziehen die Decke über den Kopf.


Daniel resümiert:  Was zählt, ist die Liebe, die uns verbindet. „Allein sind wir Futter für die Wölfe. So wollen sie uns. Isoliert. Beutestücke. Also müssen wir uns finden.“


Am Ende bleibt die Stärkung der Resilienz


Mein Fazit des Romans: Formal gesehen, franst er nach der Hälfte inhaltlich aus. Kompression und in der Folge Zuspitzung hätten ihm gutgetan. Die fast fünfzig Seiten des zweiten Kapitels sind vollkommen überflüssig und können ohne Verlust übersprungen werden. Was den geistigen Gehalt betrifft: Kunzru wirft einen sehr eigentümlichen Blick auf unsere historische Situation. Die blinden Flecke der Linksliberalen sieht er scharf. Als Repräsentant der Rechten aber jubelt er dem Leser eine sozialdarwinistische, neofaschistische Kriegertruppe unter, die möglicherweise für eine Strömung der Alt-Right-Bewegung steht, aber nicht typisch ist für diese Seite der ideologischen Barrikade. Vielleicht glaubt der Autor, das Wesen einer Sache zeige sich am deutlichsten im Extrem. Vielleicht aber ist ein Popanz auch leichter zu schlagen. Einige der von Anton geäußerten Überzeugungen werden eher vom postliberalen Weltwirtschaftsforum und den globalen „Philanthropen“ vertreten. An Isolierter zwangskollektivierbarer leichter Beute haben doch sie größtes Interesse, nicht die konservative Rechte! Man sieht förmlich die Hexe auf ihrem Zauberbesen reiten und triumphierend kreischen: “rechts ist links und links ist rechts“.


Und eine Einsicht wird dem Leser vermittelt: Wenn die gesellschaftlichen, Krankheit induzierenden Mechanismen nicht ausgehebelt werden können und man nicht aus dem System als Ganzem aussteigen kann oder will, bleibt nur noch die Stärkung der Resilienz durch Reduktion auf ein basales Leben: in liebe- und vertrauensvoller Hingabe an die unmittelbar Nächsten, gestützt auf die Bereitschaft zu physischer Gewaltanwendung, sollte auch diese letzte, tiefste Ebene angegriffen werden. Dies zu veranschaulichen ist das Verdienst des Romans „Red Pill“. Er handelt von dir und mir.


Hari Kunzru: Red Pill. Liebeskind Verlagsbuchhandlung: München 2021


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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.





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