In Frankreich scheint es eine neue Version des Umgangs mit der für viele als unerträglich empfundenen sozialen Realität zu geben. Protestiert und gestreikt wurde hier schon immer gern und viel. Von deutscher Seite blickte man wahlweise mit Neid oder Herablassung auf das auseinandersetzungsfreudige und in Denken und Handeln radikalere Nachbarvolk. Dort sorgen Enttäuschung und Desillusionierung in Bezug auf die herrschende Politklasse für ein diametral entgegengesetztes Verhalten, als man es in Deutschland kennt.
Will man dem Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der Literatur, Glauben schenken, spielen viele Menschen zumindest mit dem Gedanken zu verschwinden, und manch einer verfügt über den Mut oder die Verzweiflung, diesem Drang auch nachzugeben.
Im Folgenden möchte ich drei Romane vorstellen, die das Element des Verschwindens aufgreifen. Alle drei spielen in der Zukunft, sind aber bar jedes Sci-Fi-Charakters. Die Zukunft ist lediglich eine Verlängerung der Gegenwart. Alle Elemente der Entwürfe sind heute schon vorhanden.
In Michel Houellebecqs Roman „Serotonin“ löscht der sechsundvierzigjährige Ich-Erzähler Florent-Claude Labrouste seine soziale Existenz aus, indem er seinen Job im Landwirtschaftsministerium, den er als völlig sinnentleert und nichtig empfindet, kündigt, aus Wohnung und toxischer Beziehung ohne Hinterlassen einer Nachricht flieht, sein Konto auflöst und ein neues eröffnet sowie seine Internet-Identität löscht. Auf diese Idee brachte ihn eine Fernsehdokumentation.
In Frankreich entscheiden sich jährlich mehr als zwölftausend Menschen zu verschwinden, ihre Familie zurückzulassen und ein neues Leben zu beginnen, mal am anderen Ende der Welt, mal, ohne ihre Stadt zu verlassen. Houellebecq, Serotonin
Ohne Ziel lebt Labrouste zunächst in Pariser Hotels, später durchstreift er französische Provinzen und besucht ehemalige Weggefährten. Er sieht sich in einem Stadium friedvoller, gefestigter Traurigkeit – ohne gute Gründe zu leben oder zu sterben.
Bereits zwei Jahre zuvor erschienen die beiden Romane „Unser Leben in den Wäldern“ von Marie Darrieussecq und „Die Verdunkelten“ von Jérome Leroy.
Darrieusecq läßt ihren Plot in einer unbestimmten Zukunft spielen, in der alle Menschen mit Hilfe eines implantierten Chips immer online sind. Die obersten Zehntausend haben die Verfügungsgewalt über einen oder mehrere Klone, denen sie bei Bedarf diejenigen Körperteile entnehmen lassen können, die in ihren eigenen Körpern ersetzt werden müssen. Immerzu verschwinden Menschen, die gar nicht wissen, daß sie lediglich Ersatzteillager ihrer über einhundertjährigen „Eingesessenen“ sind. Als die Tagebuchschreiberin es begreift, nachdem ihr bereits eine Lunge und ein Auge „abgeerntet“ worden sind, flüchtet sie in die Wälder.
Wie macht man das, verschwinden? Wie macht man das? Offline gehen, das wollte ich ja gern tun, aber das bedeutete, man war absolut allein, ohne Geld, ohne Wohnung, denn auch seine Wohnungstür kann man nur öffnen, wenn man online ist. Das vergißt man schnell, in welchem Maße jede unserer Bewegungen im Netz steht, festgehalten und kategorisiert usw. Von den Robotern gelesen. Archiviert, verglichen, einsortiert. Die banale Bewegung, seine Tür mit der Hand zu öffnen,…, indem man sich identifiziert. Zu bezahlen, indem man einfach durch eine Tür mit Iris-Scanner geht…Zu telefonieren, indem man nur das Mikro im Ohr aktiviert. Das vergißt man alles. Wenn man verschwindet, sagte ich mir, kann man überhaupt nichts mehr machen. Man kann nicht mehr existieren. Darrieusecq, Unser Leben in den Wäldern
In den Wäldern findet sie zu einer großen Gruppe von aktiv Verschwundenen. Diese leben nach dem Vorbild der Sioux-Indianer in provisorischen Unterkünften, die sie jederzeit abbauen können, wenn Drohnen sie entdeckt haben. Ein Teil der Gruppe plädiert für eine andere Art der Flucht: das Leben in einem unterirdischen Tunnelsystem. Gemeinsam ist ihnen, daß sie ihre „Hälften“ aus den Klonzentren befreien wollen. Sie führen mehrere Angriffe auf lokale Stationen erfolgreich durch. Die Vorstellungen vom Umgang mit den befreiten „alter egos“ aber differieren. „Einige Leute fanden, mit genau diesem Zuwachs an Arbeitskräften könnte man eine unterirdische alternative Stadt graben, als Konkurrenz zur Online-Stadt usw. Sich niederlassen. Die Zukunft. Es wurde gestritten.“ Viel mehr erfährt der Leser nicht vom Leben der Outlaws. Daß auch sie nicht in der Lage sind, humane Beziehungen zu gestalten, ahnt man, wenn man am Ende der Tagebuchaufzeichnungen angekommen ist: Die Verfasserin vermutet, daß sie im Inneren der Tunnel festgehalten wird. Bereits zu Beginn hat sie notiert, daß das Camp mit eiserner Hand geführt werde.
Leroy hingegen läßt die ehemalige französische Geheimagentin Agnès Delvaux, die 2031 auf dem Land in einer neuen noch in den Kinderschuhen steckenden Welt, einer „Welt danach“, lebt, von ihrer Arbeit in den Jahren 2014 ff. in Paris berichten. In der gegenwärtigen Handlungsebene gibt es keine technischen Geräte mehr, die Stromlieferungen werden vollständig eingestellt.
Wir kehren zu einem archaischen Rhythmus zurück, das heißt, zu einem, der Sinn macht. Leroy, Die Verdunkelten
2014 wurde der Geheimdienst mit einem unheimlichen Phänomen überrascht: dem massenweisen Abtauchen von Menschen beiderlei Geschlechts und jedweden Alters. Besessen von dem fünfundfünfzigjährigen Schriftsteller Trimbert, der hochpolitische Romane geschrieben hatte, als Kommunist oder zumindest ehemaliger Kommunist gilt und nun deutliche Anzeichen des Verschwinden-Syndroms zeigt (mangels anderer Begrifflichkeiten bezeichnen die Sicherheitsorgane dieses Klientel als „die Verdunkelten“, den Prozeß als „Verdunkelung“, frz. l’Eclipse), beobachtet die Ich-Erzählerin mit allen Mitteln des Geheimdienstes minutiös den Prozeß des individuellen Herausnehmens aus der Gesellschaft, der die Staatsgewalt in Angst versetzt.
Die – zunächst nur französische – Welt ist nicht mehr dieselbe seit 2015: Terror, Sabotage, Krawalle und Streiks lassen Paris ins Chaos stürzen. Gewalt und Müllberge prägen das öffentliche Leben. Die digitale Überwachung ist total. Die letzten Tage des Warenkapitalismus, „der, koste es, was es wolle, retten will, was zu retten ist, um noch möglichst viele Gewinne einzusacken“, machen aus Frankreich ein „präfaschistisches Disneyland“, ein „verstrahltes Irrenhaus…voll tödlichem Selbsthaß“, in dem das Verhalten der Menschen irre Formen annimmt und an Zombies erinnert. Bald würden alle mit Google-Brillen und implantierten Chips herumlaufen.
Viele Menschen hören auf, sich etwas vorzulügen, wahlweise beginnen sie zu trinken, Selbstmord zu begehen oder eben sich zu verdunkeln. Trimbert möchte sich verflüchtigen, ausradieren, ausbleichen, verblassen wie eine Farbe, sich verlieren, Stille genießen. Er will auf’s platte Land, wo das, was bevorsteht, nur mit Verzögerung ankommt. Sein Überdruß wird zu Gleichgültigkeit und dem Gefühl, nicht mehr zu den Menschen zu gehören.
Die Verwirklichung erfolgt in kleinen Schritten. Fast zwei Jahre braucht der Schriftsteller, „um sich der unsichtbaren Menge anzuschließen, die den Anfang des Endes ausgerufen hatte“. Delvaux schätzt ein, daß die Verdunkelung sicher nicht das spektakulärste Anzeichen des allgemeinen Zusammenbruchs sei, aber bestimmt das aufschlussreichste. In acht bis zehn Jahren breche die Gesellschaft zusammen, nicht aus ökonomischen Gründen oder der um sich greifenden Gewalt, sondern wegen der massenhaften Verweigerung der Menschen. Die Verdunkelung, auch „Bartleby-Syndrom“ genannt, ist dabei keine konzertierte Aktion, sondern die Summe der Bewegung einzelner Unverbundener. Sie beginnt mit durchschnittlich dreißig Fällen pro Tag, später sind es im Durchschnitt zweihundert. Erst zuletzt verdunkeln sich die jungen Menschen, fehlte ihnen doch die Erinnerung daran, je in einer lebenswerten Welt gelebt zu haben. Sie hatten nichts wiederzufinden, was sie einst besessen hätten. Irgendwann verschwinden auch Prominente und Staatsbedienstete. Sind sie Geheimnisträger, werden sie vom Geheimdienst aufgespürt und ermordet, auch durch Delvaux. Später greift die Verdunkelung auch auf andere europäische Länder über und die britische Premierministerin verschwindet. Ein Achtel der französischen Bevölkerung stirbt beim Anschlag mit einer schmutzigen Bombe in Lyon.
Als Delvaux endlich begreift, daß sie einer Maschinerie dient, die außer Rand und Band geraten ist, die immer mehr Kontrolle über eine Bevölkerung gewinnen will, der man die Wahrheit über den Zustand der Welt nicht zumuten kann, und daß die Demokratie nur noch eine Attrappe ist, verdunkelt auch sie sich. Sie zieht sich mit ihrer kleinen Tochter in eine konkrete Utopie zurück, die man beim Geheimdienst als „anarcho-autonome Verschwörung“ eingestuft hatte. In dieser „Republik der Sanftmut“ wird eine neue Art des Miteinanders eingeübt, das sich auch auf Pflanzen und Tiere bezieht und sich durch völliges Fehlen von Gewalt auszeichnet. Lediglich zur Verteidigung der besetzten Höfe gegen die Horden von Plünderern, die durch das Land ziehen, sind Delvaux‘ Fähigkeiten in Sachen Gewaltausübung noch eine Zeitlang gefragt.
Auch Trimbert begegnet auf seinem Weg in die Verdunklung einem alternativen Lebensentwurf. Ab und zu fährt er in dieser Zeit nach Eymoutier, wo er junge Leute trifft, die intelligent und sensibel sind, die „an die Befreiung des Menschen glauben, an Gemeinschaften, die auf der gleichen politischen Überzeugung beruhen, an Wachstumsbeschränkung“. Sie praktizieren seit Anfang der 2000er Jahre eine sanfte Form des Überlebenskampfes. Hier wird eine tatsächlich existierende Kommune charakterisiert, deren politisch-publizistischer Arm das „Unsichtbare Komitee“ bildet, von dem mehrere Pamphlete auch in deutscher Sprache erschienen sind. Staatlicherseits werden seine Mitglieder als gefährliche Terroristen bezeichnet. In einer ihrer Veröffentlichungen thematisieren auch sie das Verschwinden als Widerstandsform. Sie sprechen vom dauernd aufgeschobenen Verlangen der Masse, alles hinzuwerfen
Wegzulaufen. In zehn Jahren, zwischen zwei Volkszählungen, sind in Großbritannien 10 000 Personen verschwunden. Sie haben einen LKW genommen, ein Ticket gelöst, LSD konsumiert oder sind in den Untergrund gegangen. Sie sind ausgetreten. Sie sind weggegangen. Wir hätten gerne, während unseres Austritts, einen Ort gehabt, um uns wieder zu sammeln, eine Partei, die wir hätten ergreifen können, eine Richtung, die wir hätten einschlagen können. Viele, die fortgehen, verlieren sich. Und kommen nie an. Unsere Strategie ist also die Folgende: von nun an ein Ensemble von Brennpunkten der Desertation, von Zentren der Abspaltung, von Sammelpunkten zu etablieren. Für die Flüchtenden. Für die, die gehen. Ein Ensemble von Orten, an denen man sich dem Zugriff einer Zivilisation, die in den Abgrund stürzt, entziehen kann. Es geht darum, sich die Mittel zu schaffen, die Ebene zu finden, auf der die Gesamtheit der Fragen gelöst werden kann, die, wenn sie jedem einzeln gestellt werden, in die Depression führen…(Das Unsichtbare Komitee) Leroy, Die Verdunkelten
Die drei Romane sind symptomatisch dafür, daß im Zeitalter des Postneoliberalismus und unter dem Vorzeichen von „Big Data“ gesamtgesellschaftliche Bewegungen und Lösungen von vielen mittlerweile für unmöglich erachtet werden. Nur im individuellen Ausstieg, in der Totalverweigerung auch der digitalen Omnipräsenz scheint eine wachsende Anzahl Unglücklicher einen Ausweg für sich zu sehen. Immer wieder wird in der Literatur das Verschwinden an eine Vision von Gemeinschaften gekoppelt, die einer ganz anderen Logik unterliegen als der von global-radikaler Marktwirtschaft geprägten des Abendlandes.
Marie Darrieusecq: Unser Leben in den Wäldern. Secession Verlag 2019
Michel Houellebecq: Serotonin. Dumont 2019
Jérome Leroy: Die Verdunkelten. Nautilus 2018
Dieser Beitrag erschien zuerst auf anbruch-magazin.de
*
Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.