In bürgerlichen Romanen kommt der Fall einer Familie gewöhnlich nach ihrem Aufstieg. Des Österreichers Rudolf Preyer Titelsetzung ist bereits Interpretation. Allerdings entbehren beide Entwicklungszyklen völlig des Tragischen, das der schönen Literatur der Vergangenheit meist eignet. Die ganze Handlung gehört eher der satirischen Gattung „Farce“ an. Zur Darstellung des „Falles“ benutzt der Autor sogar Slapstick-Elemente, wenn er den nächtlichen Einbruch dreier junger Angestellter einer Sicherheitsfirma in eine von dieser selbst gesicherte Villa ausmalt: Der Tresor läßt sich nicht öffnen, weil der Zahlencode nicht stimmt. Zudem ist die Familie nicht, wie erwartet, außer Haus und wird schnell auf den Einbruch aufmerksam. In der Folge wechseln die beiden Glock-Revolver des Ehepaars immer wieder den Benutzer. Hinzu tritt ein Küchenmesser, das einer der Einbrecher an sich nimmt und mit dem er den Sohn der Gottmanns schwer verletzt. Alle drei Dilettanten, darunter zwei Nordmazedonier, werden im Verlauf des Gemetzels von der Familie getötet. Die Polizei nimmt Ermittlungen auf, und der Fall kommt in alle Medien und vor Gericht. Seine Interpretationen bewegen sich – je nach Interpret – zwischen legitimer Notwehr, Notwehrüberschreitung und Lynchmord.
Da die Familie Gottmann auf Anraten ihres Anwalts die Aussage verweigert, ist der Tathergang nicht vollkommen rekonstruierbar, und das Ehepaar Gottmann wird frei gesprochen. Daß der pater familias als exzellenter Sportschütze gilt und einem der Nordmazedonier in den Rücken geschossen wurde, was zum sofortigen Tod führte, wird den Angeklagten nicht zur Last gelegt. Der Staatsanwalt zeiht Dr. Frank Gottmann zwar des „Notwehr-Exzesses“, denn er habe sich „nicht des gelindesten zur Verfügung stehenden Mittels bedient…, das geeignet gewesen wäre, die Angreifer zuverlässig und endgültig abzuwehren, die Angreifer aber am wenigsten geschädigt hätte“. Aber das Gericht urteilt nach dem Rechtsprinzip „In dubio pro reo“.
In den linken Blogs ist von „Schandurteil“ und Ausländerfeindlichkeit der deutschen Justiz die Rede. Andere Blogs feiern die Familie als „Helden der Selbstverteidigung“. Ein in Österreich bekannter Politblogger verkündet: „Mir sind hundert erschossene Räuber lieber als ein schwerverletztes Opfer ihres Treibens.“ Gottmanns werden noch einige Wochen lang beschimpft und bedroht. Dann ist es vorbei. Von Preyer aber erfährt der Leser wie nebenbei, daß sich die Familie ihres schuldhaften Verhaltens, der Selbstjustiz, die sie vollzogen hat, wohl bewußt ist. Beim Essen diskutiert sie, „was, wenn sie uns draufkommen? Ist es nicht besser…alles zu gestehen?“ Das aber lehnen die Eltern kategorisch ab. Die Gottmanns hatten Gott gespielt und fanden das recht und billig.
Der Rechtsstaat setzt Exzessen Radikaler enge Grenzen. Nur: Der Rechtsstaat ist keine absolute Entität. Er ist an ein funktionierendes Gemeinwesen gekoppelt. Fällt dieses aufgrund fehlgeleiteter Politik auseinander, kann sich der Bürger noch einige Zeit an der scheinbar ehernen Institution festhalten und sich in Sicherheit wiegen. Aber allein das Rechtssystem oder gar nur das Bundesverfassungsgericht kann nicht dauerhaft Fels in der Brandung sein. Es erodiert – vielleicht als letzte Instanz, je nach gehabter Stärke – aber eben am Ende doch. Und Rechtsvertreter stehen bei aller formalen Unabhängigkeit nicht außerhalb des politischen Raumes. Auch sie haben Überzeugungen und befinden sich in Abhängigkeitsverhältnissen.
Hört die Friedensliebe und Friedfertigkeit in einer zivilisierten Gesellschaft auf, Konsens zu sein, betritt die Archaik wieder die Bühne und längst domestizierte menschliche Regungen brechen unter der Oberfläche der Sittlichkeit hervor. Der Bürger nimmt sein Recht selbst in die Hand, sieht er es doch bei den staatlichen Instanzen nicht gut aufgehoben. Zuerst kommt der Verlust des Vertrauens in Parteien und Politiker, danach der in den Rechtsstaat, d.h. das Balkengerüst. Das letzte Glied der Kausalkette bilden einmal mehr die charakterlichen Schwächen einzelner, maßgeblicher Individuen. Gewalt im Inneren spiegelt sich in der Gewalt gegen angebliche äußere Feinde.
Ost- und westdeutsche Mentalität und Psyche sind nach 1945 vom Paradigma der Friedfertigkeit geprägt worden. Ausreißer waren im Westen der RAF-Terror, im Osten die Staatsgewalt und die Menschenleben verachtende Grenzsicherung. Beide sind marginal gewesen und konnten am grundsätzlichen Gefühl von körperlicher Sicherheit und der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung nichts ändern. Die politisch-ideologische Linke mußte den Topos „strukturelle Gewalt“ erfinden, um nicht die letzte Begründung dafür zu verlieren, auch weiterhin, auch bei üppigster Sozialstaatlichkeit, für die Abschaffung des Kapitalismus zu kämpfen. Tatsächlich war die bundesdeutsche Wohlfahrtsgesellschaft mit ihrer durchpazifizierten Bevölkerung der siebziger und achtziger Jahre wohl der Gipfelpunkt gesellschaftlicher Zivilisiertheit.
Heute meinen die westdeutschen linken und grünen Mandatsträger an der Macht, die Früchte dieser Jahre ernten zu können, indem sie ideologische Erziehungsarbeit leisten und ihre realitätsfernen Dogmen umsetzen (Genderismus, Grün- und Buntheit, Feminismus, Klimahysterie, grenzenlose Einwanderung). In Wirklichkeit leisten sie einer Retribalisierung und der Beendigung eines jahrzehntelang friedlichen Status quo in Wohlstand Vorschub.
Aus dem Inneren der deutschen Bevölkerung ertönte kein Ruf nach gewalttätiger Durchsetzung eigener Interessen. Erst mit der EU-Politik der offenen Grenzen und der Masseneinwanderung aus Afrika hat die Gewalt wieder Einzug gehalten. In Deutschland setzte in den Zehnerjahren nahezu abrupt ein Paradigmenwechsel im Verhältnis der Einwohner zueinander ein. Ein damals noch folgenloser Vorläufer war die Beteiligung der Bundesrepublik an den Jugoslawienkriegen. Aber auf dem Prüfstand steht die Wehrunwilligkeit und -fähigkeit erst seit 2015.
Seitdem muß jeder Deutsche für sich entscheiden, wie er im Falle eines Angriffs auf ihn oder andere Menschen in seiner Nähe reagieren soll. Noch ist die Mehrheit (insonderheit der Westdeutschen) nicht in der Lage und willens, diese Entscheidungssituationen als solche anzuerkennen. Noch läßt sie sich von der Rubrizierung als „Einzelfälle“ narkotisieren oder arbeitet, aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus, mit Verdrängung. Ihren Glauben an den Rechtstaat und die tatsächliche Wahrnehmung der Pflichten, die sich aus dem staatlichen Gewaltmonopol ergeben, sind sie nicht bereit aufzugeben.
Die Gottmanns waren da schon weiter. Sie wappneten sich gegen die omnipräsente Gefahr mit einem technischen Sicherheitssystem und zwei Pistolen im „Nachtkasterl“, und zumindest der Herr im Haus ließ sich an Waffen ausbilden und war bereit dazu sie anzuwenden. Die Unverhältnismäßigkeit dieser Anwendung in der Gefahrensituation deutet auf eine Eigendynamik des Mittlers „tödliche Waffe“ hin: Nur wer sich gar nicht erst bewaffnet, verliert nicht seine Unschuld. Er kann in die ehrenvolle Rolle der Opfers schlüpfen – mit entsprechenden physischen und psychischen Schäden.
Bereits im Jahr 2000 veröffentlichte Christoph Hein einen Roman mit vergleichbarer Handlung: „Willenbrock“. Er behandelt die Kriminalität und den Verlust des Sicherheitsgefühls in der ehemaligen DDR Ende der neunziger Jahre. Nach einem Raubüberfall beschafft sich ein wohlhabender Autohändler einen Revolver bei zwielichtigen russischen Bekannten. Und dieser geht selbstverständlich auch los. Konnte man zur damaligen Zeit den postsozialistischen Gewaltschub noch als nicht bewältigte Umbruchsfolgen deuten, ohne sich grundsätzlich um das Gewaltmonopol des Staates zu sorgen, ist das heute anders: Eine inzwischen mit politischer Korrektheit indoktrinierte Polizei, Armee und Justiz mit chronischer Sachmittel- und Personalknappheit wurde (zielgerichtet?) unfähig gemacht, ihre eigentlichen Aufgaben adäquat zu erfüllen. Sie alle werden ideologisch und juristisch so gesteuert, daß sie im Zweifel eher Opfer werden, als aggressiv, gegengewaltsam und würdevoll in Gewaltszenen einzudringen. Nicht selten wird auch ganz schlicht Angst ihre Reaktion beeinflussen. Und der schwarze Peter wird der Bevölkerung selbst zugeschoben: Wenn jemand Zeuge von Gewalt werde, solle er (und sie!) „Gesicht zeigen“ und Angegriffene mit ihrem Körper verteidigen. Selbstverständlich wird eine solcherart in Haftung genommene Bevölkerung danach trachten, sich zu bewaffnen. Die Einwohner in eine solche dilemmatische Situation und Gefahr zu bringen, ist eines der schlimmsten Verbrechen, die ein Staat begehen kann. Wie sollte man ihm nicht das Vertrauen entziehen?
Rudolf Preyer: Fall und Aufstieg der Familie Gottmann. Edition Nordost bei Antaios, 200 Seiten, 16 Euro
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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
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