In ihrem Buch „Endspiel. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können“ stellen die Autoren Ulrike Guérot und Hauke Ritz das Versagen der europäischen Eliten und das Scheitern des Projektes „Europa“ dar. Ihre Analysen und Beschreibungen fußen auf nichtgenannten politisch-weltanschaulichen Prämissen, aber der Titel ihres Buches verrät bereits, dass es beide gut meinen mit der Idee Europa. Das hindert die Autoren nicht daran, mit den Irrtümern und Impotenzen der Spitzenpolitiker Europas äußerst kritisch umzugehen. Außerdem erfährt der Leser unbekannte Details, die Zusammenhänge deutlich machen, welche in den Leitmedien nicht thematisiert werden. Empirisch ganz stark ist das Buch auch bezüglich der Kriegsplanspiele der USA und der Hintergründe des Ukraine-Kriegs. Sogar den Verlust der Meinungsfreiheit und -vielfalt und Elemente eines „umgekehrten Totalitarismus“ sprechen sie beherzt an. Die Lektüre lohnt sich also auf alle Fälle!
Problemfall Westdeutschland
Die Autoren gehen offenkundig davon aus, dass für die multiple Krise der Gegenwart die Amerikaner verantwortlich sind. Wären diese unbeteiligt geblieben am und nach dem Systemkollaps der Staaten des Warschauer Paktes, hätte 1990 in Europa der Himmel auf Erden errichtet werden können: Freiheit, Wohlstand, Demokratie und Sicherheit für alle Europäer und ein enger Austausch mit Russland in Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Sicherheit und Energie wären die Folge gewesen. Der These, dass die Amerikaner auch nach dem Kalten Krieg kein Interesse an einer solchen Entwicklung hatten, sondern einzig und allein an ihren alten und immer wieder aufgewärmten und aktualisierten geostrategischen Plänen festhielten (und halten), laut derer sie die einzige Weltmacht sein und bleiben sollten und alle Konkurrenten auszuschalten sind, trifft höchstwahrscheinlich zu. Daran aber, dass Deutschlands Vereinigung unter radikalen neoliberalen Vorzeichen stattfand, mit allen sozialen und politischen Verheerungen, die daraufhin in Osteuropa Raum griffen, sind nur in geringem Maß die USA schuld. Vielmehr haben führende Europäer und deutsche Politiker bzw. Wirtschaftsleute die Vereinigung konzipiert und durchgezogen. Der Westen Deutschlands sollte von der Vereinigung profitieren und den Osten zu einem mitteleuropäischen „Mezzogiorno“ machen, einem vom reichen Norden abhängigen Armenhaus wie es einst der italienische Süden war. Deshalb wurden sämtliche Eliten Ostdeutschlands von westdeutschen Eliten ersetzt.
Weniger elitär erklärt sich die kontinuierliche Zunahme der Verachtung Deutschlands gegenüber den Russen (Guérot/Ritz nennen den Anfang der Kanzlerschaft Merkels als Zeitpunkt des Beginns der Irritationen in der deutsch-russischen Beziehung), denn diese hat eine breite gesellschaftliche Basis in Deutschland und darüber hinaus in Europa. Gewiss: Zahlreiche Intrigen wurden von der CIA und dem MI5 oder MI6 geschmiedet. Europa aber besaß – und besitzt bis heute – keine eigene geopolitische Ausrichtung und unterstützte deshalb die amerikanischen, außereuropäischen Verstöße gegen die UN-Charta nur allzu gerne von Fall zu Fall, nämlich immer dann, wenn sie ihnen nützten und für die Verfolgung eigener Vorstellungen und Ziele geeignet schienen. Wo ein Kollateralnutzen in Aussicht stand, machte Europa gerne mit. Deren Spitzenpolitiker freuten sich, dass die USA Weltpolizist spielte. Geschickt war man dabei, ohne wirklich dabei zu sein.
Niedergang der politischen Klasse
Größenwahn, Egoismus, Machtstreben, Distinktion und Ausleben von Spieltrieb sind keine Alleinstellungsmerkmale der Amerikaner. Auch unsere europäische „Elite“ geht seit mehr als 30 Jahren flott voran, wenn es etwas zu gewinnen gibt, das sie vor der Geschichte noch berühmter und bedeutender erscheinen lässt, als sie es nach eigenem Dafürhalten bereits sind. Politische Skrupel scheint es nirgendwo mehr zu geben. Die moralische Seite politischen Handelns scheint global vollkommen von Berechnung, Vorteilssuche, Zynismus und hemmungslosen Lügen ersetzt worden zu sein. „Elitenverkommenheit“ nennt das Rainer Mausfeld treffend. Die gesamte politische Klasse, zumindest Europas, ist moralisch vollkommen diskreditiert. Ihre Dekadenz, ihre Inkompetenz und Überforderung in der Sache aufgrund mangelnder Intellektualität und Persönlichkeitsbildung sind inzwischen Legende. Politikverdrossenheit und Argwohn gegenüber Politikern überhaupt sind die Ursache für das Erstarken von Rechtsparteien und rechten Bewegungen, nicht die inhärente Bösartigkeit ihrer Vertreter. Von Guérot und Ritz dazu: nichts.
Die USA haben vielleicht den Plan erarbeitet, aber durchgesetzt haben ihn mit offenkundigem Stolz und so gar nicht heimlicher Freude die europäischen Spitzenpolitiker: Statt die Wirtschafts- und Sozialmigration aus afrikanischen Ländern auf wirksame Weise zu verhindern, wurde sie, zumindest von den deutschen Politikern, noch unterstützt. Ausbaden müssen diese unverständliche und kriminelle Entscheidung die Menschen „da draußen im Lande“. Macht jemand einen Fehler, kann man vielleicht von Unfähigkeit oder einer Kurzschlussreaktion ausgehen. Wiederholt er den Fehler sieben Jahre lang, ist es wahrscheinlich kein Fehler mehr, sondern es steht ein Plan dahinter. Von Guérot und Ritz dazu: nichts.
Und dann noch die leidige und geliebte Demokratie: Bis 1989 scheint sie für die beiden Autoren eine vorbildliche Institution gewesen zu sein. Erst als die USA nach dem Umbruch auch (Ost-)Europa zum Vasallen machen wollten, bekamen die Transatlantiker in der Politik und den Medien Aufwind, trugen die Erziehungsziele der Amerikaner offensiv in die Medien und betrieben Propaganda für Ziele, die eigentlich keine genuin europäischen waren. Die Wirtschaft koalierte nun hemmungslos mit der Politik und schaltete das Parlament und die demokratiegewährenden Einrichtungen in zunehmendem Maße aus. Das Weltwirtschaftsforum mit dem berühmt-berüchtigten Klaus Schwab als Vorsitzenden arbeitet seither die Theorie einer neuen Weltordnung aus, schult die politische und wirtschaftliche globale Elite im „richtigen“ Zukunftsdenken, dem Konzept „Great Reset“, ohne die geringste demokratische Legitimation zu besitzen.
Wunschziel Europa
Das letzte Kapitel des Essays ist der romantischen Beschreibung eines zu wünschenden Europas gewidmet. Die Autoren träumen – wie im Untertitel angekündigt – von einem europäischen Staat, der kein Superstaat sein will, „kein Agent der Globalisierung, sondern lediglich ein funktionierender, souveräner Staat mit wirtschaftspolitischem Gestaltungsspielraum, in dem gesamteuropäische, parlamentarische Mehrheiten entscheiden, die nicht durch nationale Blockaden hintertrieben werden.“ (S. 167) Befragungen hätten ergeben, dass sich die EU-Bürger „mehr partizipative Demokratie“ und „die Abschaffung der nationalen Vetos“ (S. 171) wünschten. Ihre „schützende Hand“ (S. 166) würde die europäische Staatlichkeit über die föderalen Strukturen des Bundesstaates Europa legen, versprechen die Autoren. Eine „gleichberechtigte europäische Bürgerschaft jenseits von nationalen Grenzen“ (S. 175) ist ihre Vision. Die „endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen“ (S. 173), ein Ziel, das im Manifest von Ventotente im Jahr 1941 festgelegt worden sei, solle als Kompass dienen. Konzepte würden gebraucht, „die die Nation nicht primär als identitären, sondern als einheitlichen sozialen Raum definieren“ (S. 168).
Klingt gut und sympathisch. Nur: „Die Verhältnisse, die sind nicht so“, wie Brecht lakonisch konstatierte. Mit wem wollen die beiden denn diese Variante eines europäischen Kommunismus auf kapitalistischer Basis aufbauen? Mit wohlstandsverwahrlosten „Eliten“ ohne Gemeinsinn? Mit politischen Emporkömmlingen? Mit den heruntergekommenen Teilen der Bevölkerung, die immer größer werden? Mit den Mittelständlern, die gerade dabei sind, ihre ökonomische und politische Basis zu verlieren, wie sie einst die Arbeiterklasse im Zuge der Technisierung und Automatisierung verlor? Oder gar mit den unvermeidlichen Fachidioten (Intellektuellen)? Das sind weltfremde Überlegungen. Es wirken derzeit ganz andere Dynamiken. Dass, zum Beispiel, ein Sozialstaat, welchen Umfangs auch immer, mit offenen Grenzen nicht funktioniert, bleibt unerwähnt. Ein solches Europa würde zu einem neuen Babylon mit den entsprechenden Konsequenzen. Individuelle und lokale Sicherheit wären das letzte, was dort entstehen und vor allem bestehen würde.
Eine Idee als Totgeburt
Dass es Ulrike Guérot und Hauke Ritz gut meinen mit der Idee Europa, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass sie von allen Faktoren, die den positiven Zukunftsentwurf in Frage stellen oder sogar obsolet werden lassen könnten, konsequent absehen. Nur mit einem gehörigen Quantum an Naivität kann man Mitte 2022 in Aussicht stellen, dass Europa wieder ein Hort geistig-kulturellen und politischen Spitzenniveaus werden und somit – wie zu Zeiten der Aufklärung – Vorbildcharakter für die ganze Welt haben könnte. Es scheint, als nähmen die beiden Autoren gar nicht wahr, was allein schon ein Gang durch die Großstädte Deutschlands und anderer europäischer Länder auf sinnliche Weise bezeugt: Es geht schon lange nicht mehr um ein mehr oder weniger demokratisches und geeintes Europa. Es geht auch nicht um staatlich gestützte Selbstverwaltung oder brüderlich geteilte Souveränität in einigen Gebieten Europas. Die werden schon jetzt im großen Stil von anderen Teilen der Weltbevölkerung besiedelt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Ungebremst dringt der Überschuss junger Menschen von der Südhalbkugel in unser „reiches“ Europa, das nur noch von der Erinnerung an gewesenen Ruhm zusammengehalten wird. Portugal etwa lebt stark von den Erinnerungen an eine Zeit, in der das Land eine reiche und glückliche Kolonialmacht war.
Auf den zweiten Blick wird also deutlich, dass es nicht um „Impotenzen und Irrtümer“ geht, wie ich es zu Beginn meiner Rezension formuliert habe, sondern um Interessen, fehlendes Verantwortungsbewusstsein, mangelnde Bildung und Werte, Egoismus und schiere Dummheit. Macht ohne transzendente Bindung, welcher Art auch immer, macht zynisch. In Kombination mit Totaldigitalisierung und -überwachung sowie Transhumanismus wird es schon bald um die Möglichkeit gehen, ein lebendiges, moralisch hochwertiges und würdevolles Leben zu gestalten. Es wird für selbstbestimmte Individuen und Gruppen eher um ein Leben neben dem System oder außerhalb desselben gehen, als um ein neugeordnetes Europa. Der Essay von Guérot und Ritz gehört in alte Zeiten, als das Wünschen noch half, man einen Frosch an die Wand werfen konnte und einen Prinzen gewann.
Ulrike Guérot, Hauke Ritz: Endspiel. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können. Westend Verlag: Frankfurt am Main 2022. 201 Seiten, 20 €.
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Über die Autorin:
Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de.
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