In den meisten Besprechungen der ersten Staffel der US-Fernsehserie „Severance“ von 2022 behaupten die Autoren, deren Thema sei die work-life-balance in der Gegenwart. Wo hatten sie ihre Augen? Oder sind sie denk- und fühlfaul? Mit dem Verhältnis von Arbeits- und Freizeit beschäftigt sich der Langfilm nur an der Oberfläche. Anhand dieser Story auf der ersten Wahrnehmungsebene wird ein weit tiefgründigeres und drastischeres Thema durchdekliniert. Bereits am Retro-Look der Kommunikationsgeräte (PC-Bildschirme, Fotoapparate, Kassettenrecorder) wird deutlich, daß es Dan Erickson, dem Drehbuchautor, und Ben Stiller, dem Regisseur, nicht um die unmittelbare Gegenwart geht, sondern um die Mechanismen der Manipulation von Menschen und deren physische technische Aufrüstung – hier: zum Vorteil eines Großunternehmens. Es geht um Experimente an und mit Menschen. Es geht um eine Aktualisierung der Orwellschen Dystopie durch die Möglichkeit der Implantierung von digitalen Chips ins Gehirn. „Severance“, die Trennung von Gehirnarealen, wird hier angewendet, um die Identität von Angestellten der Firma Lumon Industries zu teilen in einen „Innie“ und einen „Outie“: Der Büromensch weiß nichts vom Privatmenschen „da draußen“ und dieser nichts von jenem.
Foto: Apple TV+
Party im fensterlosen Büro
Womit der Konzern eigentlich Geld verdient, ist weder den Zuschauern noch den in Bullshit-Jobs Beschäftigten klar. Diese haben acht Stunden am Tag nichts anderes zu tun, als an ihren altertümlichen Computern aus einer den ganzen Bildschirm ausfüllenden Kolonne sich bewegender Zahlen diejenigen in den Papierkorb zu verschieben, die unangenehme Gefühle in ihnen wecken. Die Newcomerin Helly versteht die Aufgabe nicht und wird getröstet: Sie werde es schon bald selbst sehen. Zur Belohnung gibt es „Melonen- und Waffelpartys“. Die sehen so aus, daß der Aufseher von vier Beschäftigten, die in der Mitte eines riesigen Raumes an vier eng aneinandergestellten Schreibtischen sitzen, einen Grillwagen hereinrollt, auf dem die „Leckerlis“ drapiert sind, und verkündet, die „Party“ könne nun losgehen. Das ist so skurril wie beklemmend. Denn die wohl einige hundert Quadratmeter umfassende Büroetage wird von Angestellten anscheinend nur in diesem einen Raum genutzt. Vom Fahrstuhl aus führen Dutzende enge und eckige Labyrinth-Gänge in aggressivem Weiß, grell-kalt beleuchtet, hin zu eben jenem einen „bewohnten“ fensterlosen Büro, das ohne die geringste ästhetische Gestaltung der riesigen Fläche auskommen muß. Später stellt sich heraus, daß am anderen Ende des Parcours‘ noch eine, viel größere, Abteilung arbeitet. Aber das Management achtet akribisch darauf, daß sich die beiden „Kollektive“ nie begegnen. Irgendwann tun sie das natürlich doch – und schon beginnt es zu menscheln, und die schöne Ordnung muß leider auf repressive Weise wiederhergestellt werden.
Auftritt des weiblichen Prinzips
Außerdem gibt es auf dieser Etage einen Sicherheitsdienst in einem Überwachungsstudio mit ungefähr zwanzig Monitoren, eine Chefin, die, ansonsten ohne Arbeitsaufgabe, ebenfalls die kleine Arbeitsgruppe überwacht und züchtigt, und eine personifizierte Stimme des Vorstandes, der nie zu sehen und zu hören ist, mit Dauer-head-set-Dienst. Das ist eine Szenerie, die über die gesamten neun Folgen erhalten bleibt. Wir sehen den drei Kollegen bei der Arbeit bzw. bei ihrem irren Treiben zu. Entweder ist es die tote Umgebung, die auf ihr Verhalten abfärbt, wie die KI-artige Mimik und Sprechweise der Chefin, die nicht „gesevered“ ist, nahelegt, oder mit dem Eingriff wird noch mehr zerstört als nur die Erinnerung an die jeweils andere Hälfte der Existenz: Die drei Männer benehmen sich infantil, wirken naiv, dümmlich und wie ferngesteuert. Nach dem geheimnisvollen Ausscheiden des Chefs dieser drei komplettiert eine Frau das Team.
Diese ist gegen ihren Willen und mit Manipulation und Tricks dazu genötigt worden, den Arbeitsvertrag mit Lumon Industries zu unterschreiben und sich in der Folge den – nicht gerade kleinen – Computerchip einsetzen zu lassen, wobei ihr Schädel mit einer Bohrmaschine geöffnet wurde. Zwar kann auch sie sich nicht an ihren „Outie“ erinnern, aber sie wird nicht, wie offensichtlich die drei Männer, von der trotz des Umfangs der Räume klaustrophobischen Atmosphäre aufgesaugt. Die Kurven ihres Körpers, die Farben ihre Kleidung und ihrer Haare, ihre lebhafte Art zu reden, ihre ganze sinnliche Präsenz verrät: die paßt hier nicht rein, in diese kantige, sterile Welt. Und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn sie sich hier zu einem Zombie verwandeln ließe. Vom ersten Tag an durchschaut sie den Irrsinn der Tätigkeit, stellt Fragen nach dem Charakter des Unternehmens, beobachtet die befremdlichen Rituale und Verhaltensweisen der Probanden und will schon am nächsten Tag kündigen. (Damit bedient diese Rolle natürlich das Klischee von der größeren Lebensnähe des weiblichen Prinzips.)
Der Firmengründer ist ein Heiliger
Wenn man nichts infrage stellt und stumm funktioniert, gewöhnt man sich an diesen Arbeitsort und seine Tätigkeiten. Die meisten, so suggeriert der Film, wollen Normalität. Die meisten wollen glauben: an die Menschenfreundlichkeit der Herrschenden, an die Sinnhaftigkeit ihrer von außen gesteuerten Existenz. In der DDR habe ich gelernt, daß man – zumindest wenn man Deutscher ist – ein autoritatives Regime hinnimmt und sich in das System eingliedert, und zwar an der Stelle, die die Herrscher für einen vorgesehen haben. Die meisten wollen nicht zweifeln oder sich wehren. Ihre Seelenruhe ist ihr höchstes Gut, und das bewahrt man sich am ehesten, wenn man mitläuft und kein Aufsehen erregt. (Und das gilt für Frauen genauso wie für Männer.)
Noch die stupidesten Beschäftigungen werden gutwillig mit Bedeutung aufgeladen. Das bis ins kleinste durchorganisierte Leben einer totalitären Ordnung aber (von der das Projekt „DDR“ nur ein müder Kleinstversuch war) ist auf erstaunliche Weise fragil. Jede menschliche Regung, jede Äußerung des „gesunden Menschenverstandes“, jede Abweichung vom Normierten kann zu Kettenreaktionen führen und Panik bei den Diktatoren auslösen. Darum wird noch das kleinste Vergehen mit der größten Unerbittlichkeit geahndet. Und sobald der Wille zu glauben und zu funktionieren erlahmt und Unbotmäßigkeiten Platz greifen, lockern sich Steine im Fundament. Deshalb müssen totalitäre Regime immer für spektakuläre Massenevents und -stimmungen sorgen. Und sie müssen ihre Herrschaft religiös aufladen.
Auch in dieser Fernsehserie regiert ein Heiliger: der Gründer des Unternehmens, der vor einhundert Jahren das Handbuch, die Heilige Schrift des Lumon-Imperiums, verfaßt hat. Eine besondere Anerkennung seiner Arbeit erwartet einen Angestellten, wenn er die heilige Halle betreten darf, in der lebensgroße Plastiken von jedem bisherigen CEO aufgestellt sind und angeblich die Wohnung des heiligen Kir als Nachbau zu sehen und sogar vom Ausgezeichneten zu betreten ist. Manche Angestellte können das Handbuch aus dem Kopf zitieren. Und nicht wenige beten zu Kir, so auch die nicht „geseverde“ Chefin (der Etage oder des Hauses oder – man weiß es nicht).
Über das Silicon Valley hinaus
Besonders perfide wird die geschilderte Konstellation dadurch, daß ausnahmslos jede Kündigung eines Innies ohne Angabe von Gründen abgelehnt wird. Und da der Outie sich ja nicht an seinen Kündigungswunsch erinnert, kann er sich auch nicht dafür entscheiden, dem Unternehmen einfach fernzubleiben. Die neu zum Team gestoßene Helly versucht, diesen Umstand zu umgehen, indem sie sich selbst eine entsprechende Notiz schreibt, die sie in ihr Privatleben mitnehmen will. Aber im Fahrstuhl wird von einer Erkennungssoftware jeder Schriftzug, wo auch immer am Körper des Benutzers er sich befinden mag, gelöscht. Schriftliches kann das Haus nicht verlassen. Sie sitzt in der Falle. Aber – so viel sei verraten – sie gibt nicht auf. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Dan Erickson mit der Namensgebung „Helly“ eine kleine Verbeugung vor dem von Fritz Lang 1926 gedrehten großen Science-Fiction-Film „Metropolis“ machen würde. Denn dessen Schlüsselfigur hieß „Hel“.
Natürlich kann man in dieser Serie eine Karikatur oder eine Charakterstudie des Silicon Valley sehen, wie sie bereits von Dave Eggers mit den Romanen „The Circle“ und „Every“ verfaßt worden ist. Man liegt damit sicher nicht ganz falsch. Aber dem Spezifikum von „Severance“ wird man damit nicht gerecht. Die Serie hat kein spezielles Unternehmen im Blick, noch nicht einmal die Wirtschafts- und Arbeitswelt als Ganzes. Hier geht es vielmehr um ein – scheinbares? – Fatum: Ist Technik einmal zu Manipulierung und Totalüberwachung von Menschen geeignet, wird sie auch genau dazu verwendet werden. Sei es durch Großunternehmen oder den (Welt-)Staat. Oder eine Kombination von beiden.
In ästhetisch anspruchsvollen Bildern, die immer wieder an Edward-Hopper-Gemälde erinnern, führt uns die Serie „Severance“ diese Gefahr auf beklemmende, ja teilweise ängstigende Art – im Wortsinn – vor Augen. Dabei ist sie so skurril, daß man als Zuschauer ständig zwischen Lachen und Schaudern hin- und hergeworfen ist.
*
Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.