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Beate Broßmann: EIN TAG IM LEBEN DES DIMITRI LEONIDOWITSCH OBLOMOW

Dieses kleine Werk umfaßt nur 100 Taschenbuchseiten. Das Nachwort von Martin Lichtmesz 28 Seiten. Schon um derentwillen lohnt sich die Lektüre dieser eigenwilligen Utopie. Auf ihnen erfahren wir z.B., daß dieses Stück Prosa Zugabe zu einem 1998 erschienenen größeren Werk des Autors Guillaume Faye (1949-2019) ist, das den Titel „Archäofuturismus“ trägt.





Wer diese Geschmacksrichtung antizipierenden Denkens noch nicht kennt, wird von Lichtmesz gründlich belehrt. In die Ideologie des „vitalistischen Konstruktivismus“ flösse sowohl die Essenz des Archaismus als auch die des Futurismus ein. Faye versteht den Entwurf als Vision für eine neue Zeit nach dem vorauszusehenden Kollaps der Moderne und nicht als Bebilderung dieser Katastrophe selbst. Leitendes Prinzip ist der Europluralismus. Das Besondere seines Entwurfes besteht in einer Symbiose von hochtechnifizierten und archaischen Lebensweisen. Es gibt eine Vielzahl von Gebieten, die die Möglichkeiten des technischen Fortschrittes nutzen und ihn vorantreiben. Andererseits existieren flächenreiche Gründungen, die in einfachen, vormodernen Verhältnissen leben. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.


Der eine Tag im Leben des voll in seiner Kraft stehenden 68-jährigen Reichsrates D.L. Oblomow – der mit Gontaschrows gleichnamigem Gutsbesitzer so gar nichts gemein hat – , zuständig für Interessenkonflikte innerhalb der Föderation, in der Kriege nie wieder stattfinden sollten, ist der 22. Juni 2073. Während einer seiner Reisen mit der Transkontinentalen Rapidbahn durch die Eurosibirische Föderation, einer Fusion von Rußland und der Europäischen Union, erzählt er einem jungen Mädchen – der Tochter des indischen Außenministers, die ein Studienprogramm absolviert – die Geschichte des Abendlandes in den letzten einhundert Jahren. Derartiges wird in Indien nicht gelehrt.


Wir erfahren, daß eine große Katastrophe zwischen 2014 und 2016, deren Hergang der Reichsrat detailliert darstellt und die unserer gegenwärtigen „Konvergenz der Krisen“ zum Verwechseln ähnlich sieht, Wirtschaftssysteme und Infrastrukturen des Abendlandes zerstört und zwei Milliarden Menschen das Leben gekostet hatte. Faye bedient sich ausdrücklich der Chaos- und Katastrophentheorie von René Thom und Ilya Prigogine, um diesen plötzlichen Zusammenbruch zu erklären: Jedes System besteht aus Subsystemen, die als Parameter fungieren. Ändert sich ein Parameter, passen sich die anderen Sphären an. Ändern sich aber viele, gerät die Balance der komplexen Zusammenhänge aus dem Lot, und schon eine weitere, aber zentrale Veränderung kann in Form eines qualitativen Sprungs zum Kollaps des Gesamtsystems führen. „Und genau das ist mit der globalen Zivilisation des 20. Jahrhunderts passiert. Die Blase war so groß, dass sie nicht anders konnte als zu platzen.“ Der deutsche Philosoph Oswald Spengler habe diesen Zusammenbruch im Jahre 1918 bereits prophezeit. Das Ende einer Zivilisation sei nie weit entfernt von ihrem Höhepunkt. Das „‘Virus des Untergangs‘ wirkt eine Weile im Unsichtbaren und macht sich dann plötzlich auf fatale Weise bemerkbar, wenn die Zivilisation ihren Zenit erreicht hat.“


Interessanterweise hielten von den großen Ländern Rußland, Indien, China und Japan der Implosion großer Weltteile stand und wurden nur peripher davon berührt. Diese Nationen hätten ihre innere Einheit und ihre archaischen Abwehrmechanismen bewahrt. Alle multi-ethnischen Gesellschaften seien implodiert, „weil sie ihre Traditionen zerstört und marginalisiert hatten.“ 2025-2028 war die Zeit der Reconqista. Mit Hilfe der Osteuropäer und v.a. der Russen wurden die muslimischen Truppen besiegt und in der Folge alle nichteuropäischen Einwanderer – um die 23 Millionen – nach Madagaskar deportiert. Das Eurosibirische Reich entstand.


2030 setzte eine Renaissance ein, im Zuge derer eine zweigeteilte Ökonomie eingeführt wurde. Die techno-wissenschaftliche Wirtschaftsordnung war nicht so konzipiert, daß sie einmal den gesamten Erdball strukturieren sollte. Lediglich 10 % der Menschheit, die in kleinen, dünnbesiedelten Städten lebte, profitierte von ihr. Der „Rest war zu einer mittelalterlichen Form der Ökonomie zurückgekehrt, basierend auf Landwirtschaft, Viehzucht und Manufakturarbeit.“ Diese neotraditionalistischen Gemeinschaften garantierten eine geringe Umweltbelastung, da sich mit ihnen der Verkehr neu regeln ließ: Privates Autofahren war verboten, lediglich elektrische und pferdebetriebene Fahrzeuge zugelassen. Der Luftverkehr wurde Stück für Stück zugunsten der Planetbahn abgebaut. Amerika hatte sich zu einem reinen Agrarland entwickelt. In den Hihgtech-Gebieten wurden die Schwangerschaften der Eliten gentechnisch unterstützt, in den archaischen gab es diese Maßnahmen nicht. Hier war man zum archaischen demographischen Zyklus zurückgekehrt, der „uralten natürlichen Ordnung, die auf hohen Geburten- und Sterberaten beruht.“


Selbstverständlich sei nicht überall die Staatsform Demokratie vorherrschend. Die passe nur zur europäischen Mentalität. Jedes Volk habe seine eigenen, spezifischen Regierungsformen. „Die Demokratie kann zu Ungerechtigkeit und Chaos führen oder zur Fassade für Tyrannei verkommen, wenn sie schlecht umgesetzt wird.“ In der Eurosibirischen Föderation werde von „organischer Demokratie“ gesprochen. Martin Lichtmesz zitiert am Schluß seines Nachwortes Alain Benoist, der über Faye’s Buch „L’Archéofuturisme“ wie folgt geurteilt hat: „Nichts, was der Autor der gegenwärtigen Ära entgegenstellt, ist keine Übertreibung, keine Intensitätssteigerung: Gegen das Universum der Herrschaft und Selbstentfremdung setzt er noch mehr Willen zur Macht; gegen den Dämon der Technik noch mehr technische Eruption; gegen das Primat der Effizienz und den praktischen Materialismus die Reduktion von Ideen auf ihren rein instrumentellen Wert; gegen den Anstieg der Intoleranz die generalisierte Exklusion; gegen die Bewegung um ihrer selbst willen, die Flucht nach vorne. Das ist weder ‚archaisch‘ noch ‚futuristisch‘ oder auch nur postmodern, sondern die Fortführung der Moderne mit allen Zutaten der Selbstzerstörung. Faye zeichnet ein fiktives Universum, in dem ich nicht leben will.“


Man würde dem Visionär aber Unrecht tun, wenn man ihn auf diese von ihm als Utopie verstandenen Dystopie reduzieren würde. Denn er war ein patriotischer Europäer, der z.B. in seiner „Rede an die europäische Nation“ bereits 1985 für ein ethnopluralistisches Europa eintrat. Gegen Julien Bendas Rede von 1932, die von „entkörpertem Humanitarismus“, „metaphysischem Universalismus“ und Kosmopolitismus getragen war, setzte er die Selbstbehauptung der Völker, die Bewahrung ihrer kulturellen Eigenarten, Besonderheiten und inneren Homogenität, das Streben nach neuer Verwurzelung. „Die Ideologie, die Europa nur als Grundstein einer Weltzivilisation zur Vereinigung aufruft, die die europäischen Völker dazu ermuntert, ihre Verwurzelung und ihren Willen zur Macht zugunsten der immateriellen Vorstellung einer ‚westlichen Zivilisation‘ zu entsagen, ist nämlich Ursache der Schwächen, die uns aufreiben, der Drohungen, die auf unseren Freiheiten lasten und der …Kämpfe, die unsere Zivilisation augenblicklich in der Arena der gegenwärtigen Welt verliert.“

In den fast vierzig Jahren, die seither vergangen sind, haben sich Fayes Befürchtungen leider bewahrheitet.

 

 

Guillaume Faye: Ein Tag im Leben des Dimitri Leonidowitsch Oblomow. Jungeuropa Verlag: Dresden 2020




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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.





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