Jedes Buch ist ein Abenteuer, das man mit einem Menschen erlebt, dem man vertraut. Verrät er die Idee des Abenteuers, verrät er dieses Vertrauen.
„Nach dem barbarischen Terror der Hamas gegen Israel schreibt ein Journalist einen Roman über das Verhältnis Westeuropas zum Islam und zu den eigenen, christlichen Wurzeln. Niemand will das Buch publizieren. Als der Journalist zu einem Kulturanlass nach Berlin reist, wird dieser von islamistischen Terroristen gestürmt, die eiskalt mit Schwert und Maschinenpistole vorgehen. Er wird Zeuge eines blutigen Massakers, das live ins Internet übertragen wird. Unter den Geiseln entdeckt der Journalist seine vor Jahren verstorbene Frau und kann bald Erinnerung und Realität nicht mehr unterscheiden. Zugleich wird klar, dass die Zeit bequemer politischer Lauheiten abgelaufen ist: Der Terror wird live ins Internet übertragen. Der neue Roman von Giuseppe Gracia: brillante Gesellschaftskritik und bewegende Liebesgeschichte in einer packenden, temporeichen und politisch hoch brisanten Komposition.“
Soweit der Klappentext des jüngsten Romans „Auslöschung“. Diese Ankündigung und ein Literaturgespräch im Kontrafunk machten mich neugierig. Sie klangen so schön politisch inkorrekt! Zugleich stellt sich aber die Frage: Das sind Themen für einen Jahrhundertroman. Wie können sie auf 119 Seiten eines Taschenbuches abgehandelt werden? Die Antwort: gar nicht.
Ein verschleuderter Roman
Die beiden Handlungsstränge, die sehr private Geschichte einer Ehe, die mit Selbstmord endet, und das terroristische Geschehen im Kultursaal weisen eben gerade keinen sinnstiftenden Zusammenhang auf, sondern werden künstlich durch Scheinmystik zusammengezwungen.
Erneut verschleudert ein Autor ein Motiv um billiger Effekte willen. Ein elementarer, existenzieller Stoff wird verramscht, um kleine Brötchen zu backen. Ein Rezensent charakterisierte Gracia als „brillanten, äußerst geschickten Erzähler.“ (Der Bund) Geschickt – das trifft es gut. Geschick + Handwerk + ein heikles, spannendes Thema: das scheint des Autors Erfolgsrezept zu sein. Mehr als der zitierte Klappentext verrät, ist zum Inhalt nicht zu sagen. Daß der Handlungsfaden etwas dünn ist, scheint Gracia selbst nicht entgangen zu sein. Seine Hinwendung zum mystisch Wunderbaren, das Changieren zwischen Wirklichkeit und Traum macht das Buch künstlich interessant.
Auch seine satirische Actionkomödie „Der Tod ist ein Kommunist“ (2021) liest sich wie ein Fiebertraum und arbeitet mit dem Mittel des „Antäuschens“. Eine mystische oder zumindest irrationale Ebene einzuziehen, scheint des Schriftstellers Markenzeichen zu sein. Auch hier setzt Gracia Duftmarken wie Pandemie, Klimawandel und „globale Verblödung“, um Interesse und den Anschein zu erwecken, hier bürste einer das Fell wider den verordneten Zeitgeist. Aber das ist Betrug am Leser. Zunächst konnte ich es nicht fassen, aber beim dritten Roman von Gracia habe ich endlich verstanden, daß der Autor einfach nur Unterhaltungsliteratur schreibt, hin und wieder auch der albernsten Sorte.
Verspielt und hochgestapelt
Gracia spielt nur mit Motiven. Er macht nicht Ernst. Das Beschreiben islamistischer Terroraktionen kann ja nicht Selbstzweck sein. Es muß ein Mehrwert entstehen, emotional, rational, etwas, das des Lesers Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit oder Verdrängung aufhebt und mit der gewonnenen Klarsicht Handeln und Entscheiden ermöglicht. Das ist bei diesem Buch nicht der Fall.
„Auslöschung ist die Neubearbeitung eines Manuskripts aus dem Jahre 2016. Ich danke dem Fontis-Verlag dafür, daß er den Roman veröffentlicht.“ Das schreibt der Autor auf der letzten Seite.
Das ist nicht nur die halbe Wahrheit. Das ist gelogen. Denn der Roman ist nicht das Ergebnis einer Neubearbeitung eines Manuskripts: Dieses ist bereits 2017 als Roman unter dem Titel „Der Abschied“ erschienen. Mit dem Einflechten von Satzteilen wie: das literarische Ich könne sich nicht daran erinnern, ob es sein Manuskript „vor oder nach dem Massaker der Hamas in Israel“ (S. 9) geschrieben habe, suggeriert Gracia, er habe sofort auf den Anschlag vom 7.10.2023 reagiert.
Es ist ja nicht so, daß der Autor nichts Ernstes, nichts Tiefgründiges erzählen könnte und nur mit Tricks zu Auflagen käme. Auf seinen Roman „Der letzte Feind“, 2020 erschienen, treffen die Attribute der Rezensenten von „Auslöschung“ tatsächlich zu: „Der Plot zerrt mindestens so an den Nerven, wie die Palette an unangenehmen Fragen, die er aufwirft.“ (Buchjournal). Könnte es sein, daß „Der letzte Feind“ das opus magnum Gracias ist, er hier alles gesagt hat, was er zu sagen hat, aber dennoch mit Schreiben sein Einkommen erarbeiten will oder muß?
Um dem Schriftsteller gerecht zu werden, möchte ich mich näher mit diesem, einem gelungenen, Roman beschäftigen. Giuseppe Gracia, geboren 1967 in St. Gallen, ist ein Schweizer Schriftsteller, Journalist und Kommunikationsberater. Er publiziert im Fontis Verlag, einem christlichen Schweizer Verlag, der nach eigenen Aussagen Glauben wecken und Kultur gestalten möchte. In allen seinen Romanen spielt das Thema „Christentum in der Gegenwart“ eine Rolle. Im „letzten Feind“ ist es das Hauptthema. Und Gracia gelingt es, den grundlegenden Streit der Gegenwart in der abendländischen Welt, den zwischen Konservatismus und Präsentismus (Hypermoderne), unter dem Dach des Vatikans ausgetragen, so literarisch-sachlich darzustellen, daß man als Leser seine Präferenz kaum spürt. Er sieht beide Positionen als berechtigt an, geht fair mit den Argumenten beider Seiten um. Dennoch ist es kein Diskussionsbuch im Geiste Robert Musils oder Thomas Manns geworden. Gracia setzt auch hier die Mittel der Suspense, der Action und des Thrillers ein, versteht es also auch zu unterhalten und damit solche Leser für seine profunde Thematik zu gewinnen, die Abhandlungen in Reinform nicht zur Kenntnis nähmen. An die genialen Kirchen-Thriller von Umberto Eco reicht er freilich nicht heran.
Kulturkampf komplex
Die Räuber-und-Schambambel-Story übergehe ich an dieser Stelle und wende mich sofort der existenziellen Auseinandersetzung zu, die den Charakter eines Kulturkampfes trägt, wie er eins zu eins auch in der abendländischen Politik ausgetragen wird.
In naher Zukunft findet das „Dritte Vatikanische Konzil“ statt. Unter dem neuen Papst Pius XIII, einem konservativen, streiten 3000 Geistliche über die zukünftige Ausrichtung der Kurie unter dem Motto „Der Verlust des Heiligen und der Verlust der menschlichen Person“. Mit dem vorigen Papst hatte es eine enge Beziehung und erkleckliche Zahlungen für liberal-humanistische „Projekte“ (z.B. die der Global Humanitarian Foundations) gegeben, die nun zunehmend eingefroren worden waren.
Ausgangspunkt der zu erwartenden Dispute ist die Ablehnung des Prinzips der Immanenz (159 f.) Das Ziel des menschlichen Trachtens hat sich verkehrt: vom ewigen Leben zum Aufgehen des Menschen in den irdischen Realitäten. Eine Instanz verselbstständigt sich, indem sie ihr ursprüngliches Ziel aus den Augen verliert bzw. ignoriert, daß es entweder bereits realisiert ist, so daß die Instanz sich auflösen könnte, oder es sich als unrealisierbar erwiesen hat, was ebenfalls zur Auflösung der dieses Ziel verfolgenden Instanz führen müßte. Aber die Institution mit allen ihren Mitarbeitern, Aktiven und Bedürftigen beharrt auf ihrer Existenz und sucht für sie ein neues Ziel. So weit, so normal: Eigendynamik von Systemen.
Die Institution Kirche hat allerdings – ähnlich wie Königshäuser – den großen Vorzug, sich auf den Ewigkeitswert ihrer Institutionen berufen zu können, die nur qua Unveränderlichkeit ihrer Traditionen, Rituale und Texte alle weltlichen Stürme überlebt habe. Reformen sind des Teufels. So radikal auf der Beibehaltung oder der Wiedergewinnung des status quo ante zu beharren zu können, ist weltlichen Einrichtungen und Ideologien nicht gegeben. Kleine Sozialverbände wie die Amish in den USA sind – abgeschottete – Ausnahmen.
Allerdings wird es auch der Kurie immer schwerer gemacht, auf ihren alten Dogmen zu bestehen: Freiheit und Individualismus gehören nun einmal so gar nicht ins Portfolio der christlichen Lehre. Als Zivilreligion der Gegenwart treiben diese Werte Massen von potenziellen Christenmenschen, die sich über den „hohen Ton“ nur noch amüsieren können, in Konsum- und Vergnügungstempel. Es sind dezidiert antireligiöse Werte. Einen kleineren Teil der Masse aber stößt der allgemeine oberflächliche Lebensstil ab, und er wird genau von diesem „hohen Ton“ angezogen. Gracia läßt in einer Art Versuchsanordnung vier Positionen zu Wort kommen, die mit dem Konflikt zwischen liberalistischem Globalismus einerseits und Traditionalismus andererseits, sowohl in Kirche und als auch in Gesellschaft, im Zusammenhang stehen: die zwei kontroversen Haltungen innerhalb der Kurie, die weltliche Haltung der Foundations, hinter denen man unschwer IWF, NGOs und andere Vertreter des Great Resets erkennen kann, und die Überzeugungen eines islamistischen Attentäters.
Vier Typen
I. Der weltliche Globalist
Die „Global Humanitarian Foundations“ verfolgen mit ihrer Arbeitsgruppe „Humans without frontiers“ und deren Erklärung zum „Internationalen transreligiösen Welthumanismus“ das Ziel, den Einfluß von Religionen auf der ganzen Welt zurückzudrängen: Die katholische Kirche weise 1,1 Milliarden Mitglieder auf und expandiere jährlich um 13-14 Millionen. Religionen seien der erste und letzte Feind der Freiheit. In Afrika, Südamerika und Asien kämpft die Foundation gegen katholische Fortschrittsfeindlichkeit, Aberglaube, verhütungsfeindliche Sexualmoral und die Reduktion der Frau auf Mutterschaft und patriarchalisches Familienbild. Auch der Islam sei diesbezüglich ein gefährlicher Gegner. Wo immer die herrschende Klasse nicht auf die Freiheit des Einzelnen setze, ernte man millionenfache Unterdrückung, Krieg, Armut und Bevölkerungswachstum. „Hätte die Menschheit nicht das Licht von Wissenschaft, Aufklärung und Säkularisierung empfangen, um den Religions- und Traditionsgestank zumindest in der westlichen Welt zurückzudrängen – es hätte nie Menschenrechte und Demokratie gegeben, weder eine sexuelle noch eine technische Revolution, weder Selbstbestimmung noch Reproductive Rights.“ (53)
Einmal konfrontiert mit der Vielfalt weltoffener Gesellschaftsmodelle, würden sich die Menschen automatisch lösen von veralteten religiösen, national-kulturellen oder familiären Bindungen. Die Foundations wollen Afrika in diesem Sinne neu organisieren. Zum Einsatz könnten Sterilisierungs- und westliche Genderprogramme, Pille und Abtreibung kommen. Der leitende Mitarbeiter der Foundations Keane wirft allen religiös Gläubigen vor, „Schisshasen der Natur“ zu sein. „Sie ertragen die einfache Tatsache nicht, daß es nur diese Welt gibt und dass alle sterben müssen. Sie ertragen die Armseligkeit ihrer limitierten Lebenszeit nicht und klammern sich mit blinder Einbildungskraft an Gott. Den Gott, der am Ende alles richten soll.“ (246) Aber er plädiert für eine „sanfte und kluge Umformung der Kulturen“ (57), die eines Tages den Anschluß selbst rückständiger Völker an Globalisierung und Digitalisierung ermögliche.
II. Der liberale Katholik
Kardinal Johannes Feuerbach, Erzbischof von Köln und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, trägt im inneren Monolog die Überzeugungen der liberalen Reformer vor: Er sieht im Motto des Konzils „Der Verlust des Heiligen und der Verlust der menschlichen Person“ die Negativbilanz einer pessimistischen Kirche und fragt sich: „Sind solche Themen nicht typisch für eine Kirche der Weltangst, in der man offene Fenster und das Leben da draußen in der Gesellschaft verachtet und in der man diese Verachtung seit Jahrhunderten als Frömmigkeit verkauft, als heilige Pflicht?“ Diese sei schon immer eine Flucht gewesen, eine Flucht vor der Liebe zum Menschen und zur Welt und vor dem Dasein selbst. Der jetzige Pabst wolle nichts wissen von der „Welt und ihren immer neuen Explosionen und Evolutionen aus der Kraft Gottes“. (79) Die Gläubigen aber wollten mehr von der bereits begonnenen Öffnung der Kirche: Sie wollten „Liturgie und Seelsorge auf Augenhöhe, Freundschaft mit den anderen Religionen, Dezentralisierung der Macht, Kampf gegen die grauenvollen sexuellen Mißbräuche und Synodalität“ anstelle der dogmatischen Verstopfung einer bewegungsscheuen Kirche. (80)
Er, Feuerbach, habe vier Jahrzehnte gekämpft „für Weltoffenheit, für die Gleichstellung von Mann und Frau in der Kirche, für die Wertschätzung von Andersdenkenden, Andersglaubenden, Anderslebenden – für eine Rückkehr zur vorbehaltlosen, unendlichen Liebe von Jesus, Kern des Christentums. So, wie es in der Urkirche der ersten Jünger gelebt worden ist.“ (149) Doch immer sei das Bollwerk undurchdringlich geblieben, immer haben die Ewiggestrigen den Ton angegeben. Ohne eine grundsätzliche theologische Neubestimmung der menschlichen Sexualität sei die Kirche nicht zu reformieren. Lust und Leidenschaft müßten eine Existenzberechtigung auch ohne Zeugungsabsicht haben. Und Homosexualität sei so alt wie die Menschheit und auch bis in die höchsten Ränge der Kirche anzutreffen.
In seiner Rede auf dem Konzil behauptet Feuerbach, mit ihrem Kampf gegen die Gegenwart mitsamt ihrer Globalisierung, die angeblich zur Versklavung führe, teilten die Traditionalisten die Auffassung rechtspopulistischer Propagandisten und schürten die Angst der Völker vor Wandel und Zukunft. Dabei habe die Welt heute nie gekannten Wohlstand hervorgebracht – und zwar gegen die Kirche. Diese sei eifersüchtig auf den Erfolg des aufgeklärten Denkens und Handelns, der sie „alleingelassen habe mit ihren Drohgestalten im Beichtstuhl, degradiert zur reinen Zuschauerin der Geschichte.“ (166) Gott sei weder Gehorsam, noch Verbot, sondern Freiheit, Mündigkeit und Liebe, und er stehe auf der Seite des Fortschritts und der Menschenrechte. Jesus Christus sei ein Revolutionär gewesen und der größte und tiefste Liebende und Kritiker der Macht. Diese habe in Form der Kirche das Ohnmächtige und Gedrückte, das Ängstliche und Feindselige im Menschen gefördert, bis der in Sklavenmoral und Demut aufgegangen sei. Das Konzil müsse das Evangelium wieder ins Zentrum rücken und von der grenzenlosen Liebe des Schöpfers sprechen.
III. Der traditionalistische Katholik
Die traditionalistische Sicht innerhalb der Kirche wird vom Papst Gasperri und seinen beiden Vertrauten Settaniavi und Corelli vertreten.
Settaniavi, der Präfekt der Glaubenskongregation, sieht die Gefahr, daß außenstehende Mächte die Kirche schwächen wollen, damit sie keinen Widerstand leistet gegen die herrschende Massenkultur, gegen Globalisierung und Digitalisierung, Wohlstandsdenken und Erlebniskonsum, gegen Verzweckung von Beziehungen und gegen die Anpassung des Regelwerkes an den Zeitgeist.
„Wie kann man die Wahrheit des Glaubens, die der Kirche anvertraut ist, ernsthaft umtauschen wollen gegen die herrschende Kultur? Wie kann man die Kathedrale der Überlieferung, gebaut auf der Hingabe gottergebener Generationen, für den neumodischen Wohlstands-Individualismus preisgeben, mit dem sich geistlich gesehen höchstens eine Hundehütte bauen läßt?“ (84) Welche Fortschritte habe die Postmoderne eigentlich aufzuweisen, an die sich die Kirche anpassen solle? fragt Settaniavi in einem Gespräch mit dem Papst. „Medizin, Technologie, Wissenschaft? Ja, natürlich: In diesen Bereichen dürfe man erstaunliche Errungenschaften bewundern, doch seien diese auch moralische Fortschritte? Bessere Computer, Operationen, Handys, Flugzeuge: Bedeuten diese Dinge eine Evolution der Seele und der Humanität?“ (173)
Benvenuto Corelli, der Freund Gasperris aus Jugendtagen, sieht im Teufel den letzten Feind. Er lauere unterhalb der Oberfläche des Weltlärms, um die Beziehungen zwischen den Menschen abzuschneiden und ihre Verbindung zu Gott zu stören. Der Mensch solle jede Transzendenz meiden, wünsche sich der Antichrist. Er solle alles Höhere und Übermaterielle verwerfen und sich in sich selbst verschließen: ein Gefangener im eigenen Spiegelkabinett.
Der Pabst hält eine relativ kurze, aber sehr engagierte Rede. Wer wenn nicht die katholische Kirche könne dem globalisierten Zeitgeist die Stirn bieten? Die Wucht des globalen Wettbewerbs, der Familien und Völker auseinanderreiße, der die Natur aussauge und die Würde des Lebens mit den Füßen der Gier zertrete, könne nicht mit dem Frieden von Heuchlern und der Selbstbeschäftigung der Kirche begegnet werden. Dem atheistisch-technizistischen Humanismus mit seinem Kult der Optimierung und dem nie erlebten Hochmut, sogar nach dem Baum des Lebens greifen zu wollen, sekundiert von einer globalistischen Elite, die in den armen Ländern Gott spielt, müsse mit Mut und Selbstbewußtsein widerstanden werden.
Interessanterweise sieht Gasperri in den Traditionalisten diese Kraft nicht. Sie seien weltfremd und unfähig, „den Vorrang der Person als Ebenbild Gottes vor jeder religiös-politischen Macht zu verstehen“. Die heutigen Weltmächte, so der Papst weiter, gingen von falschen Vorstellungen des Menschen aus, „nämlich von einem starken, sich selbst reinigenden, zur Hochkultur emporschwingenden Menschen“. Der wahre Mensch aber bleibe „stets ins schwache Fleisch der Bedürftigkeit gehüllt“. Er sei gleichzeitig niedrig und groß, und in ihm wohne „die Lust des Tieres wie die Lust des Engels“. Gleichgültigkeit oder Hochmut gegen Gott sei die Gefahr, die besonders in technisch hoch entwickelten Gesellschaften lauere und dem Seelenheil schade. Die Welt benötige dringend „ein neues Verlangen nach Gottes Liebe“, nach „Christus Jesus, Mitte der Geschichte und des Lebens“. (137)
Im Gespräch äußert der Papst: Der Mensch als Gottes Ebenbild müsse verteidigt werden gegen die „postmoderne Totalverwertung“, die Heiligkeit des Lebens im Mutterbauch und auf dem Sterbebett. „Als Kirche mutig auftreten und dem Gewitter der Angriffe standhalten, bis sich das Wort des Apostel Paulus erfüllt: bis der letzte Feind, der Tod, entmachtet ist.“ (242)
IV. Der gewaltbereite Moslem
Der islamische Terrorist versichert sich kurz vor seinem Anschlag auf den Papst seiner Grundüberzeugungen: Er spricht von der seelenzerstörenden Gottvergessenheit des Materialismus und der Anbetung von Geld, Konsum und Hurerei bis hin zur moralischen Degeneration. „Deswegen muß sich der Islam mit allen Mitteln wehren, wenn der Westen seine kapitalistischen Seelengeschwüre und seinen kranken Lebensstil in den Rest der Welt exportiert und alle Völker zu beherrschen sucht…“ (129)
Fazit der Positionen
Ich habe die vier Positionen relativ ausführlich wiedergegeben, weil sich eine solche Zusammenschau wesentlicher Betrachtungsweisen selten findet. Als Leser ist man geneigt, jedem der Sprecher ein ums andere Mal zuzustimmen. Viele Argumente haben einen wahren Kern. Die Auffassungen der traditionalistischen Katholiken bezüglich des Charakters der westlichen Welt decken sich mit denen der Islamisten (beide ziehen aber natürlich völlig verschiedene Schlüsse daraus). Die Reformkatholiken nehmen Argumente der Großen Transformatoren auf, wollen dabei aber die Kirche im Dorf lassen. Gottes, des Schöpfers, Liebe und die Beschwörung der Heiligkeit des Lebens und des Menschen als Ebenbild Gottes ist unter dem Strich alles, was christliche Traditionalisten und Liberale den Milliarden Menschen ihres Wirkungskreises anzubieten haben als Alternative zum globalen Abriß, der Disruption, Transformation und Digitalisierung durch die weltlichen Machthaber. Man muß kein Atheist sein, um zu befinden, daß dieser Glaube ein zu stumpfes Schwert sein wird im Kampf gegen die Großideologie der Gegenwart und ihre brachialen Umsetzungsversuche.
Und wer ist nun eigentlich der Titelheld des Romans, der „letzte Feind“? Für den einen ist es die Religion an und für sich, für den anderen der Teufel und für den Dritten der Tod. Immer ist es ein Hindernis, das beseitigt werden muß, damit alles gut wird. Haltet durch, hinter der nächsten Kurve haben wir es geschafft!
Aber es wird niemals eine totalitäre oder fundamentalistische Ideologie und keine Religion je das ganze Weltenreich erobern. Dazu sind die Menschen und die Kulturen zu unterschiedlich. Was nottut, ist Ambiguitätstoleranz. Das heißt nicht, daß man keine Ideale brauche oder sie aufgeben müßte. Doch sie sollten nicht vermessen sein, und man sollte sich bei dem Versuch ihrer Verwirklichung nicht solcher Mittel wie Übergriffigkeit, Manipulation und Instrumentalisierung anderer Menschen bedienen.
Es wird nie „alles gut“! Gewöhnt Euch daran!
Das Resümee meiner Gracia-Lektüre fällt also gemischt aus: Einerseits ist der Autor sich nicht zu schade, Buchmarkt und Leser dann und wann mit Taschenspielertricks zum Narren zu halten. Andererseits belegen mindestens seine Essays „Das therapeutische Kalifat: Meinungsdiktatur im Namen des Fortschritts“ (2018) und „Die Utopia-Methode: Der neue Kulturkampf gegen Freiheit und Christentum“ (2022) sowie sein Roman „Der letzte Feind“, daß ihr Verfasser kein Flachkopf ist und weiß, worum es geht: um alles. Und wenn er will, kann er sein Lebensthema auch in einer ziemlich guten fiktionalen Verpackung darstellen.
Giuseppe Gracia: Auslöschung. fontis Brunnen Basel: Basel 2024, 128 Seiten, 15,90 €
Giuseppe Gracia: Der letzte Feind. fontis Brunnen Basel: Basel 2020, 256 Seiten, 18 €
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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de
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