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Beate Broßmann: DER IRRTUM. EINE WAHRE GESCHICHTE

Dieser Tage stand ich gegen 22 Uhr einmal an einer Straßenbahnhaltestelle. Der Platz leer – bis auf einen jungen Mann, der mit mir wartete. Ziemlich groß, dunkle Augen, schwarzer Vollbart und über den Kopf gezogene Kapuze. Als er seine Aktentasche öffnete, dachte es in mir unwillkürlich: Holt er jetzt ein Messer heraus? Die Gelegenheit könnte günstiger nicht sein. Ich tastete nach meinem KO-Spray. Nach einer Schrecksekunde die Erleichterung: Ich erblickte zwei Taschenbücher. Da holte auch ich das meine, Michael Meyens „Der dressierte Nachwuchs. Was ist mit der Jugend los?“, heraus.

 




Fünf Minuten später stiegen wir in die gleiche Bahn ein. Er setzte sich mir gegenüber und sprach mich umgehend und in akzentfreiem Hochdeutsch an: Er habe den Titel meines Buches gesehen. Er lese auch viel und suche Antworten auf so viele Fragen. Im Moment interessiere er sich für Buddhismus. Was ich denn meine, was man in seinem Leben erreichen könnte oder sollte? Ginge es nur um die persönliche Vervollkommnung und Selbstverwirklichung? Oder müsse man auch an seine Umwelt und Mitmenschen denken? Wie lebe man richtig? Wohin sollte man sich entwickeln? Ja, er sei ein Suchender, bekannte er nach meinen eher hilflosen Antworten und Gegenfragen. Es stehe doch alles infrage. Er finde keine Gewissheiten. Alles könne so sein, aber auch anders. „Existiert die Welt da draußen wirklich?“ Er deutete auf die Höfe am Brühl, die jenseits des Fensters an uns vorbeifuhren. „Oder ist das alles nur eine Simulation?“ Was stehe denn in meinem Buch für eine Lösung?


Ich war überrumpelt und überfordert. Auf einen Messer-Migranten war ich mental vorbereitet, auf einen Marsmenschen nicht. Vor fünfunddreißig Jahren hätte mich junge Philosophin ein so vehementes Vortragen von Grundsatzfragen entzückt, und ich hätte dem Herumirrenden wohl einen Kurzvortrag darüber gehalten, in welcher edlen Tradition er mit seiner weltanschaulichen Suche stehe, daß er Geduld mit sich haben und diese oder jene Bücher lesen solle. Heute verfüge ich über keinen messianischen Eifer mehr. Aber ich merkte auch an seinen Reaktionen auf meine Minimalinvasion, daß da gar nichts war, woran ich mit meinem geistigen Kosmos anknüpfen konnte. Meine Entgegnungen liefen schlicht ins Leere. Auf nichts sprang er an. Er war einfach nur ein orientierungs- und haltloser junger Mann auf der Suche nach sich selbst. Und mit Nichts als geistigem Gepäck.


Und ich dachte während meines kurzen Fußweges nach Hause an den Autor meines Büchleins, einen Professor der Kommunikationswissenschaft, und dessen verzweifelten Versuch, diese Jugend, seine Studenten, zu verstehen. Und schlagartig ergriff mich die Erkenntnis: Wir können uns anstrengen wie wir wollen, uns grenzenlose Mühe geben – und wir werden uns dennoch kaum in diese armen Menschen hineinversetzen können. Wie schwer sie es heute haben, einen Fuß auf den Boden zu bekommen, können wir uns nicht wirklich vorstellen, auch wenn wir geschult sind in Existenzialismus, Entfremdungstheorien, Hermann-Hesse-Romanen, Rilke-Gedichten und weiß der Himmel, in was allem noch. Weltfremdheit ist ja kein neues Phänomen. Aber tatsächlich scheint die Digitalität und Mondialität ihr und dem Irrewerden an sich selbst noch einen zusätzlichen Spin zu geben. Wir hatten eine Heimat gehabt, eine materielle, eine geistig-seelische und eine sprachliche – die Basis für jedwede Orientierung und Sinngebung. Von ihr hatten wir uns abstoßen können. Das war wohl der entscheidende Unterschied. Aber auch das weiß ich nicht mit Sicherheit.

 

Ich war froh gewesen, aus der Bahn aussteigen zu können. Meine deutsch-bürgerliche Bildung, dem Erziehungssystem mit Beharrlichkeit und Verve abgerungen, und die damit verbundene Reflexionsfähigkeit hatten im Moment ihrer Bewährung versagt. Zu mehr als den Fragenden auf seinem buddhistischen Weg zu bestärken, war ich nicht imstande. Buddhismus geht immer. Da kann man nicht viel falsch machen. Die Patenschaft für einen verwirrten jungen Mann auf der Suche dagegen konnte und wollte ich nicht übernehmen. Er hätte gern weiter auf mich eingeredet und seine Seele erleichtert. Doch ich floh, als habe er mich mit einem Messer bedroht.


  *



Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.




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