Allenthalben hört man Beteuerungen, es werde aus der Geschichte gelernt. Deshalb tue man dies oder lasse jenes. Deshalb halte man die eine Entscheidung für falsch, eine andere nicht. Im kollektiven Gedächtnis geblieben ist diese Begründung bei Joschka Fischer, der als damaliger Außenminister Bombardements serbischer Städte durch NATO-Streitkräfte befürwortete, da er als Deutscher aus Auschwitz gelernt habe. Seitdem ist es zum inflationären Gebrauch von Zuschreibungen gekommen, die herhalten sollen für Maßstäbe heutigen Denkens und Tuns. Indem man Vertreter anderer politischer Meinungen als „Rassisten“, „Nazis“ oder „Faschisten“ bezeichnet, bagatellisiert man das aufgerufene Ereignis, hysterisiert den politischen Diskurs und stellt sich gleichzeitig als moralisch überlegen dar, habe man doch aus der Vergangenheit der eigenen Nation, die den verräterischen Namen „Vaterland“ trug, gelernt.
Das Erinnern und Zuordnen aber ist ein willkürlich selektierender Prozess. Heutiges wird ins Verhältnis gesetzt zu Gewesenem und Geschehenem, und dieses Verhältnis unterliegt dem Zeitgeist. Erinnerungskultur ist eine politische Größe. Der Hype bestimmter Narrative kommt durch die in einem längeren Prozess erlangte geistig-kulturelle Hegemonie der jeweiligen meinungspolitischen Eliten in einer Gesellschaft zustande. Diese übt eine Zeit lang die Definitionsmacht über die ideologischen Begriffe und damit über Menschen- und Weltbild aus. Die herrschenden Gedanken sind die Gedanken der herrschenden Klasse, wie wir seit Marx wissen. Sie bestimmt, welche Vergleiche angestellt werden dürfen und worauf in der Geschichte eine Nation ihre Identität gründet. Wie es so kurz und treffend heißt: Der Sieger schreibt die Geschichte. Seit langem bezieht sich die Erinnerungskultur Deutschlands nur auf das 19. und 20. Jahrhundert. Was davor war, wird nur noch lückenhaft in der Schule gelehrt. Die Identität des Staatsbürgers prägt es nicht.
Die gegenwärtig virulente Frage, ob ein physischer Krieg im Abendland unserer Zeit noch opportun oder ein politisches Instrument grauer Vorzeit, also „unmodern“ und anachronistisch ist und durch aufgeklärten Diskurs, Diplomatie oder/und Cyberkriegshandlungen ersetzt gehört, ist eine Frage der Zeit. Desgleichen ein abendländischer Pazifismus, der Schwerter zu Pflugscharen verwandeln wollte. Derzeit scheint man sich in der politisch-medialen Klasse auf die volkstümliche sozialpsychologische Einsicht zu kaprizieren „Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ (Schiller) Vom Handel mit Kriegsgerät profitiert Deutschland zwar schon lange, aber im eigenen Land ist die Waffenkultur verpönt. Soll man sich im Süden und Osten des Globus die Köpfe abschießen – wir sind schon mindestens einen Schritt weiter: Gewalt gehört ins Netz oder in den Fernseher. Im wahren Leben ist sie degoutant.
Das ist eine schöne Illusion gewesen. Kaum „kracht“ es an einer osteuropäischen Grenze, sollen Milliarden für die Aufrüstung der eigenen quasipazifistischen Armee ausgegeben werden. Das heißt nichts anderes, als dass man sich nun auf andere Ereignisse in der europäischen Geschichte bezieht und sein Handeln begründet. Statt Nie wieder Auschwitz! heißt es jetzt Nie wieder Appeasement-Politik! Und auch auf diesem Blog ist zu lesen: Der Ernstfall, der Krieg, ist die Quintessenz der Geschichte (Valerio Benedetti). Das mag in Teilen zutreffen – die ganze Wahrheit ist es nicht. Adäquates Lernen aus der Geschichte wäre subtiler.
Geschichte ist ein Steinbruch, ein Wühltisch. Jeder sucht sich die Sentenz aus, die seine schon vorhandene Meinung, seine bereits gefällten Urteile scheinbar bestätigt. Aber was sich ähnelt, sind nur die die Phänomene. Man analysiert nicht, man reißt aus dem Zusammenhang, stellt Analogieschlüsse her und vereinfacht. Im Grunde kommt der Mensch nicht über quasimechanische Zuordnung hinaus.
Ist heute jemand der Überzeugung, unsere Situation sei genauso wie die in der Weimarer Republik, und man wisse ja, was daraus geworden sei, dann irrt er, weil nie etwas „genau wie damals“ ist. Es kann aber einzelne Punkte geben, die der heutigen Konstellation ähneln. Parallelen wären beispielsweise die Politiker- und Demokratieverdrossenheit, die chaotischen Bewegungen auf den Finanzmärkten mit der Aussicht auf einen Crash, die relative Verarmung von Bevölkerungsgruppen, die Möglichkeit eines Großen Krieges und der Wunsch vieler Bürger, von einem kompetenten und charismatischen Staatsführer regiert zu werden. Aber die Gesamtsituation war eine andere, und dass unsere jetzige genauso wie damals in Diktatur und Krieg mündet, ist nicht sehr wahrscheinlich.
Für sinnvolle Prognosen oder „Hochrechnungen“ wäre es in der Gegenwart nötig, eine totale Gesellschaftsanalyse vorzunehmen. Und auch danach wäre die Projektion nicht wirklichkeitsgetreuer als die Wettervorhersage oder die Prognose eines Wahlergebnisses. Für die Durchdigitalisierung des Erdballs gibt es keine Vergleichsgröße, keinen Präzedenzfall in der Vergangenheit. Wie weit und in welche Richtung sich die Menschheit in ihrer Folge oder im Prozess derselben verändert, kann heute kein Mensch und kein Computer sagen. Ist es möglich, von der ersten industriellen Revolution auf die dritte oder vierte schließen? Auf deren Bewegung, Implikationen und Ergebnisse? Wahrscheinlich nicht. Denn wichtige Faktoren des Anthropozäns existierten schlichtweg nicht im 18. und 19. Jahrhundert. Und welche Rolle sie spielen, erfahren wir erst, wenn das Spiel läuft.
Sowohl zum Antizipieren als auch zum Lernen aus der Geschichte bedürfte es ganzheitlichen Denkens. Dieses ist zwar zu einem allgemeinen Schlagwort geworden, und seine Notwendigkeit angesichts hochkomplexer gesellschaftlicher Systeme ist erkannt. Indes: Der menschliche Erkenntnisprozess funktioniert so nicht. Jedes Erkenntnissubjekt schaut sich die -objekte durch einen nur ihm eignenden Filter an, in dem seine Biographie ihren Niederschlag gefunden hat, und der sich zusammensetzt aus Erinnerungen, Gefühlen, Erfahrungen, Bedürfnissen, Interessen, Werten, Normen, religiösen und ideologischen Überzeugungen und Weltanschauungen sowie Zeitgeist und Selbstbild. Sie werden assoziativ „aufgerufen“ bei der geistigen Aneignung eines neuen Gegenstands, sei er materieller, sei er ideeller Natur.
Objektiv oder wahr ist dabei gar nichts. „Das Wahre ist das Ganze“, wie Hegel befand. Und das Ganze ist nie beim Einzelnen. Metaphorisch für „jenseits des Menschen“ gesprochen, ist es nur bei Gott. Das „Ding an sich“ (Kant) ist für Menschen nicht erkennbar. Wir nähern uns seinem Wesen an, indem wir sie zu „Dingen für uns“ machen.
Es ist also auch aus anthropologisch-gnoseologischer Sicht unmöglich, „aus der Geschichte zu lernen“. Und die Menschheit als Erkenntnissubjekt ist leider nicht mehr als die Summe ihrer Teile.
Die neue transhumanistische Vision trägt im Grunde genommen dieser Einsicht Rechnung. Die schnell anwachsende Datenmasse und -komplexität sei für den alten Adam (und die alte Eva natürlich auch) nicht mehr zu verarbeiten und zu bewältigen. Er müsse daher digital verbessert, „aufgenordet“ werden, sonst verliere er die Herrschaft über seine eigenen Kreationen. WEF-Gründer Klaus Schwab schwärmt für die künftige Verschmelzung physischer und digitaler Identität. Ein Cyborg, ein Hybrid, eine Schimäre: Die Körpermitte einer Ziege, der Oberkörper eines Löwen, der Unterkörper ein Drachen – das ist seinem Wesen nach das Wunschbild der globalen Elite für einen Neuen Menschen. Bei dieser Gelegenheit strebt sie gleichzeitig eine Verlängerung ihres Lebens an. Individual- und Sozialtechnologie sollen zu seinem guten Ende führen, was der Homo sapiens angerichtet hat: Der Teufel soll mit dem Beelzebub ausgetrieben werden. Auch dies eine Ausgeburt mechanisch-materialistischen Denkens.
Der Diskrepanz zwischen Aus-der-Geschichte-Lernen-Wollen und nicht Aus-der-Geschichte-lernen-Können begegnet das Erkenntnissubjekt mit einem Kunstgriff. Analog zu Einsteins Kosmologischer Konstante Lambda, die eine mathematische Lücke schloss, ohne dass dieser fiktionalen Größe irgendetwas in einer noch so weit gefassten materiellen Realität entsprochen hätte, erfinden große Menschengruppen Erzählungen, auf die sich jeder Gruppenzugehöriger gesprächsweise und rituell bezieht. Sie sind nicht hinterfragbar und fungieren als Axiome, die Gruppenidentität und -verbundenheit schaffen, kulturprägend wirken und im Großformat „Religion“ und „Ideologie“ genannt werden. Und sie bilden den Maßstab, anhand dessen bestimmte Auffassungen als richtig, wahr oder gut definiert werden. Aber nicht nur das. Diese Narrative ermöglichen es auch, miteinander adäquat umzugehen und erfolgreich zu kommunizieren. Phantasie schafft Wirklichkeiten.
Außerirdisches beeinflusst Innerirdisches. Es ist eine Methode, eine Krücke zur Erkenntnisgewinnung und umgeht das individuelle Interpretieren, das per se nie zur Übereinstimmung der Vielen führen kann und Gemeinschaften und Gesellschaften von innen sprengt. Wenn keine Form von Erzählung mehr überzeugt, ist alles zufällig und beliebig und steht nur für sich. Sinn kann nur von einem „Lambda“ ausgehen, dem Etwas Mehr über das schnöde Sosein hinaus.
Ein Sinnspruch der sozialistischen Erzählung lautete: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen! - So schlicht kann der Bezug auf die Geschichte sein. Diktaturen arbeiten stets mit unterkomplexen Deutungen. Demokratien im Untergang offenbar auch.
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Über die Autorin:
Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de.
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