In Meyers Konversationswörterbuch von 1905 wird „Anstand“ (A.) als Synonym für Schicklichkeit, Sitte, Fairness, Großmut gebraucht und als Vorstufe oder Vorbereitung der Sittlichkeit gedeutet.
Heute, wird der Terminus überhaupt noch benutzt, versteht man darunter Respekt, Sittsamkeit, Takt, Tugendhaftigkeit, Fein- oder Zartgefühl, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Manieren, Etikette, Umgangsformen, den guten Ton. Das Fehlen des A. schlägt sich in kleinen Alltagsverbrechen nieder, die nicht justitiabel, aber mit dem Stigma des Asozialen behaftet sind bzw. die längste Zeit waren.
Sascha Grosser, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons
Wofür aber angesichts des modernen rüden sozialen Umgangstons von Hobbyethikern und Managementtrainern wirklich geworben wird, nennt sich „Empathie“ und „Netiquette“, was nicht mehr als technokratisch-utilitaristisches, berechnendes Sozialverhalten am Arbeitsplatz beschreibt. Denn da kann man sich die egoistisch-aggressiven Formen des Verhaltens auf Straßen und Plätzen der Großstädte und in den „sozialen“ Medien als Ausdruck hochgradiger Anspannung und angstinduzierter Gereiztheit nicht leisten. Trotz solcher Appelle herrscht dieser Ton in nicht wenigen Unternehmen vor, wovon die immense Zahl von Mobbing-Opfern und Ausgebrannten zeugt.
Der langjährige SZ-Journalist Axel Hacke betreibt in seinem Büchlein „Über den Anstand in schwierigen Zeiten“ (Goldmann 2018) die Revitalisierung eines bürgerlichen Begriffes auf Ratgeber-Niveau. Er beschließt seine Schrift mit der Aufforderung, daß jeder doch mal bei sich anfangen solle. Im linksliberalen Spektrum der Gesellschaft ist der Niedergang des A. auch aufgefallen, aber sein Umgang damit richtet sich gegen AfD, Pegida und Trump als angeblichen Verursachern und Beschleunigern.
Im Krieg ist der A. plötzlich und unvermittelt ausgesetzt, denn er ist ein Wert der Zivilgesellschaft, gilt im besten Fall für die Mitkämpfer auf derselben Barrikadenseite. Aber auch im Zivilleben ist der Appell an den A. stets nötig, da die Mechanismen der Marktgesellschaft auf Konkurrenz bis hin zum Bankrott des Rivalen im Kampf um Konsumenten gerichtet sind, in dem keine Mittel zu gemein sind, um den Profit zu steigern. Im Wirtschaftsleben heiligt der egoistische Zweck die Mittel (denn die Marktteilnahme ist ja nur in äußerst seltenen Fällen dem Ziel gewidmet, den Käufern das Leben zu erleichtern und ihn gesund leben zu lassen. Fehlangaben über den Nutzen des beworbenen Produktes gehören zum Wettbewerb und werden von allen Beteiligten geduldet oder zumindest selten juristisch verfolgt.)
Dagegen führen die Wirtschaftsethiker ins Feld: „Anstand ist eine Haltung. Eine Einstellung. Wer ein anständiges Leben führt, sucht nicht den leichtesten Weg. Eher den guten Weg. Selten ist der gute Weg auch der leichte. Anstand bedeutet, seinem Handeln Bedeutung zu geben. Wer anständig lebt, wird sich selbst die Frage stellen: Wenn ich das tue, was bin ich dann? Anständige Führungskräfte respektieren die Meinung anderer und üben sich in Toleranz. Sie versuchen zu verstehen, bevor sie selbst verstanden werden. Sie hören aufmerksam zu und achten die Würde des anderen. Menschlichkeit ist ihre vorrangigste Eigenschaft. Sie verstehen sich auch als Diener ihrer Untergebenen.“ (https://wirtschaft-und-ethik.com/2016/10/23/anstand-eine-fast-vergessene-tugend/) Aber die allgemeine Klage über die Inkompetenz von sogenannten „Führungskräften“ zeugt von einem strukturellen Problem, dem pädagogisch nicht beizukommen ist.
Was man aber für einen urkonservativen Wert hält, hat in seiner moralischen Bedeutung erst ziemlich spät in die deutsche Sprache Einzug gehalten. Selbst in Adolph Freiherr von Knigges Klassiker „Vom Umgang mit Menschen“ (Erstauflage 1788) wird der Begriff nicht in seiner heutigen ethischen Bedeutung benutzt oder eingeführt. Der Schriftsteller adliger Herkunft hat ihn kaum verwendet, und wenn, nur im allgemeinen Sinne, inhaltsfrei, als angemessenes, ziemliches „Verhalten“ und „Benehmen“. Das ist womöglich darauf zurückzuführen, daß Knigge gerade das rein Förmliche nicht geschätzt hat. Es ging ihm um die innere Haltung, nicht die Definition äußeren Verhaltens mit dem Ziel der Scheinproduktion, gar der Täuschung, also nicht um – womöglich noch aristokratische – Formen, sondern um Inhalte. Die heutige Assoziation „Benimmregeln“ geht vollkommen an Knigges Intention vorbei. Sein Buch war recht eigentlich ein psychologischer Führer durch die bürgerliche Welt und das Ergebnis genauer Beobachtung des menschlichen Wesens als privates und öffentliches, ein klassisches Werk der Aufklärung in deren stolzestem Sinne. „Kurz: Alles, was eine feine Erziehung, was Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf Andre verräth, das gehört nothwendig dazu, den Umgang angenehm zu machen, und es ist wichtig, sich in solchen Dingen nicht nachzusehn, sondern jede kleine Regel des Wohlstandes, selbst in dem Cirkel seiner Familie, zu beobachten, um sich das zur andern Natur zu machen, wogegen diejenigen so oft fehlen, welche nie erwägen, daß es Pflichten gegen die Gesellschaft giebt, und sich daher alles erlauben, was ihnen gemächlich ist.“ (S. 102)
„A.“ stammt ursprünglich aus dem Jagdwesen und Kriegshandwerk. Über viele subtile Bedeutungsverschiebungen ist das Wort „A.“ erst im 19. Jahrhundert zu einem ethischen Terminus geworden, der nicht länger deskriptiv, sondern wertend gebraucht wird. Da sich die Tiefendimension der Sprache erst über ihre Geschichte, die Entwicklung des „Dings“ über die Entwicklung seines Namens erschließt, seien hier die wesentlichen Stufen der Determinierung kurz benannt:
In der Rhetorik der Antike entsprachen ihm die Begriffe „actutum“ und „decor“, was als „angemessen“, „sich ziemend“ oder „schicklich“ interpretiert werden kann. Im Altdeutschen standen „honestas“, „anastantida“ und „constantia“ für „Ansehen“, „Ehre“, „Ehrenhaftigkeit“ – „was sich eher auf die vorhergehende bedeutung statio zurückleitet, anständig aptus, commodus…doch erst seit dem 18 jh. hat man anstand für das schickliche in dem äuszeren betragen verwandt, von einem guten oder schlechten anstande gesprochen“ (Grimms Deutsches Wörterbuch).
Im 17. Jahrhundert noch wurde A. als „Aufschub“, „Einwand“, „Zaudern“, „Bedenken“, „Anstoß nehmen an“ verstanden. Im 18. Jahrhundert dann als „Respekt“, „Gewissenhaftigkeit“, „Genauigkeit“, „Korrektheit“, „jemandem anstehen“ als „sich schicken“, „passen“. In der älteren Deutschen Literatur wird „A.“ oftmals in Konjunktion mit „Sitte“ und „Würde“ verwendet. Und im Englischen und Romanischen verweist der Begriff „A.“ auf Dezenz, also Zurückhaltung, Unauffälligkeit und Unaufdringlichkeit.
Vier Buchtitel aus der Zeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert zeugen vom Bedeutungswechsel bzw. ihrer Erweiterung:
Johann Christian Siede: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit der aufblühenden weiblichen Jugend geweiht (1797)
Gottfried Immanuel Wenzel: Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart, und der wahren Höflichkeit (1801)
Amalie Gräfin von Wallenburg: Anstandslehre für das weibliche Geschlecht. Oder mütterlicher Rath für meine Julie über den sittlichen und körperlichen Anstand (1824)
Anonym: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart, für Jünglinge der gebildeten Stände (1804)
In letzterem lesen wir: „Die nachfolgenden Briefe wurden an einen Jüngling geschrieben, um ihn, bey seinem Eintritte in die Welt, auf einen Gegenstand desto aufmerksamer zu machen, je weniger derselbe jetzt, wie es scheint, von so vielen jungen Leuten beachtet und beherziget zu werden pflegt. Viele sehen das, was eigentlich Höflichkeit, Anstand, gute, feine Lebensart ist, mit einer Art von Geringschätzung und Gleichgültigkeit an und vernachlässigen sie; noch Mehrere halten sie blos für jene conventionellen Sitten und Gebräuche, welche in ihrem Lande, an ihrem Orte hergebracht sind, und beobachten ihre Regeln mit eben der maschinenmäßigen Gedankenlosigkeit, mit welcher sie dieselben auswendig gelernt haben; die Wenigsten haben einen richtigen, vollständigen Begrif von ihrem hohen, moralischen Werthe, von ihrem Umfange und wesentlichen Einflusse auf das ganze gesellige Leben.“
Wir sehen: Auch vor mehr als einem Jahrhundert hatten die Tugendhaften bereits Anlaß, sich über den fehlenden Anstand der Jugend zu beklagen. Wenigstens verwandten beide Seiten noch dieselbe Sprache. Heute würde eine entsprechende Befragung sicherlich ergeben, daß nur eine Minderheit der Schüler überhaupt noch weiß, was sich hinter solcherart Vokabeln überhaupt verbirgt.
Denn beim Verbergen sind wir angelangt. Die Verhaltensregeln des Miteinander waren die Prägung einer aufstrebenden bürgerlichen Klasse. In der Phase ihres Niedergangs kann ihnen keine Geltung mehr verschafft werden. Zum einen sind sie nicht auf eine Massengesellschaft – und schon gar nicht auf eine „Weltgesellschaft“ – , zugeschnitten, deren Mitglieder, teilweise auf engstem Raum lebend, Meister im Ausweichen sein müssen. Anstand braucht Abstand. Dieser wird im Zeitalter der Massengesellschaft in den Städten immer geringer.
Zum anderen werden die Regeln des Zusammenlebens im heutigen Deutschland oder auch in Gesamteuropa (erst jüngst mit viel Temperament in Frankreich) täglich neu ausgehandelt, wie uns die damalige Flüchtlingsbeauftragte der Regierung, Aydan Özoguz , 2015 belehrte. Denn Werte, Normen und Sitten in den immer umfangreicher werdenden muslimischen und afrikanischen Bevölkerungsschichten unterscheiden sich von den unseren stark, und ihre Repräsentanten sind mehrheitlich nicht bereit oder auch nur fähig, sich den unseren anzupassen. Subtile Regeln der Vermittlung haben immer das Nachsehen gegenüber den Normen allgegenwärtigen Kampfes gegen den inneren und gegen äußere Feinde, zu denen wir ohne eigenes Verschulden erklärt werden. Gegen Gewalt hat Friedfertigkeit nie eine Chance. Wir müssen unter unseren Maßstäben bleiben, wollen wir uns nicht im Alltag ständig gefährden. Unter uns, in den Nischen und Enklaven, unseren kleinen Parallelgesellschaften, sollten wir ihr Banner hochhalten – schon um unserer Kinder und Enkel willen.
Nun bin ich unversehens zum gleichen Ergebnis gekommen wie der Ratgeber Axel Hacke: Schaue jeder auf sich selbst! Auch Gottfried Benns Credo gilt in diesem Zusammenhang in erweiterter Form: Erkenne die Lage, sei tapfer und bleibe freundlich! Bewahre in harten Zeiten Haltung, Contenance und Form! Stemme dich gegen den Trend und die bereits herrschende Unkultur! Mehr scheint derzeit kaum möglich zu sein. Denn Möglichkeiten, die Barbarei an der Wurzel zu packen, sind gegenwärtig nicht in Sicht.
Und der Freiherr von Knigge könnte als Durchhalteparole für uns folgendes formuliert haben: „Vor allen Dingen wache über Dich, daß Du nie die innere Zuversicht zu Dir selber, das Vertrauen auf Gott, auf gute Menschen und auf das Schicksal verlierst!“
*
Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.