Pünktlich zum ersten Jubiläum der Kunstaktion „#allesdichtmachen“, die im Internet stattfand, erscheint das Buch zu den Filmen. Acht Textbeiträge bilden den Rahmen für die verschriftlichten Monologe von dreiundfünfzig Performern. Deren Darstellungen werden ihrerseits ergänzt durch kurze Analysen und Interpretationen des Gehörten und Gesehenen von einschlägigen Wissenschaftlern.
Das erste große Verdienst, das diesem Buch zukommt, besteht darin, die damals entstandenen Videos schriftlich vorzulegen, auch diejenigen, die kurz nach der Aufnahme oder im Verlauf der Medienkampagne zurückgezogen wurden. Man kann sich so einen Überblick darüber verschaffen, welche Aspekte der aufgenötigten Lebensweise und -bedingungen die Aktivisten am meisten irritierten, beunruhigten oder ängstigten. Kursorisch seien hier genannt: die Einschränkung der Grundrechte, die erweiterten Kompetenzen der Polizei und ihre Gewalt gegen Andersdenkende, die Folgen der Maßnahmen für Kinder, das Abstand-Ideologem, die als Gleichschaltung empfundene Einigkeit der Medien bezüglich der Informationen zu diesem Thema sowie deren Unvollständigkeit, Tendenziosität und Panikmache, die staatlicherseits geförderte Denunziation, die Widersprüche einer wirren Verbotspolitik.
Die Impfkampagne lief vor einem Jahr erst an, so dass dieser Aspekt unserer Erfahrung noch nicht mit eingeflossen ist. Michael Meyen schätzt heute ein, dass „eine außer Rand und Band geratene Virusbekämpfungspolitik die Gesellschaft zu paralysieren drohte“ (S.145).
Zweitens verbreitern die Aufsätze den gesellschaftlichen Rahmen dieser Aktion und zeigen auf, inwiefern die mediale Hetzjagd auf einige Schauspieler repräsentativ ist für eine ungute Entwicklung von Gesellschaft und Journalismus. Der letzte Beitrag des Buches, Dietrich Brüggemanns minutiöse Exegese von zwei Texten im Tagesspiegel vom 13. Mai 2021, ist hierbei hervorzuheben.
Aber auch auf der Sachebene, der Coronapolitik, wird hier Großes geleistet: Schritt für Schritt dröselt Dennis Kaltwasser in einer „Coronalogie“ den Gang des internationalen „Falles“ Corona – mit Akzent auf der deutschen Politik und Publizistik – auf. Und dieser beginnt nicht erst zum Jahreswechsel 2019/2020, sondern in den Nullerjahren. Der Autor lässt ihn mit der Schweinegrippe im Jahre 2009 einsetzen. Diese Chronologik enthält oder schafft auch eine sachliche Logik. Der Leser entscheidet, ob sie ihm einleuchtet oder nicht. Naturgemäß kann sie nicht vollständig sein (wer es ausführlicher haben will, ist mit Thomas Röpers Buch „Inside Corona. Die Pandemie, das Netzwerk uns die Hintermänner“ gut bedient).
Dem Gegenstand entsprechend, stehen Wesen und Möglichkeiten der Kunst im Fokus. Ich zitiere Carsten Gansel, der systemtheoretisch argumentiert: „Bekanntlich gilt das Teilsystem Kultur bzw. das kulturelle Feld als einer jener „dritten Räume“ ungebändigter Kommunikation, in bzw. auf dem es zu einem permanenten Wechsel von Aufstörung und Aushandlung von gesellschaftlichen Toleranzgrenzen kommt.“ (S. 34) Störungen offenbarten sich und würden hier symbolisch ausgehandelt. Kunst und Literatur seien ausgezeichnete Formen der Selbstbeobachtung und -verständigung von Gesellschaften. Zu ergänzen bliebe, dass Kunst per se Tabus thematisiert und die Grenzen ihrer Geltung verschieben kann.
Und für Satire im Besonderen gilt ein Gleiches. Klaus-Rüdiger Mai widmet ihr ein Kapitel. Er befindet: „Satire setzt Intelligenz voraus. Satire ohne Intelligenz ist lediglich Herabsetzung, Schadenfreude und Häme, vor allem ist sie eins: unwesentlich, weil sie am Wesen der Realität vorbeigeht, denn zur Erkenntnis der Wirklichkeit ist Intelligenz und als Folge Urteilsvermögen erforderlich.“ (S. 43). Und er zitiert Roda Roda, der zur resignativen Auffassung kam, dass in manchen Ländern Satiriker überflüssig seien, da die Regierungen sich dort selbst lächerlich machten. Diesen Fall sieht der Autor nun wieder eingetreten. Die Linken, die „früher“ die Rolle von bös-intelligenten Gesellschaftskritikern innehatten, „haben sie [die Satire – d.Vf.] gleich nach der Erringung der Diskursherrschaft verstaatlicht: Man könnte auch von öffentlich-rechtlichen Satireämtern sprechen mit Oberamtmännern wie Böhmermann und Welke“, die allerdings so lustig seien wie deutsche Behördenleiter im Allgemeinen. (S. 44) Satire sei zu einer Unterabteilung der Propaganda mutiert, zum Medium der Volkserziehung. K.-R. Mai ist der Ansicht, dass der Verlust des Komischen und Satirischen eine Folge der vergangenen sechzehn Merkel-Jahre ist, der “lähmenden Verkündigung der Alternativlosigkeit“, des Unpersönlichen, Technokratischen ihrer Herrschaft und der damit zusammenhängenden Entpolitisierung des öffentlichen Raumes. (S. 47)
Hierzu scheint mir eine Ergänzung nötig zu sein: Der beschriebene Zustand ist nicht nur einem historischen Zufall wie der Merkelschen Kanzlerschaft zu verdanken. Bereits 2008 beschrieb Sheldon S. Wolin in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch „Umgekehrter Totalitarismus“ dieses Phänomen der Postdemokratie. Der „umgekehrte Totalitarismus“ setze auf eine politisch demobilisierte Gesellschaft, auf lethargische, apathische, ins Private abgedrängte Bürger. Er fragmentiere und konditioniere die Wählerschaft darauf, sich kurzzeitig aufzuregen. Dann kontrolliere er seine Aufmerksamkeitsspanne und fördere Untätigkeit oder Apathie. Aktive Unterdrückung sei nicht erforderlich; es genüge systematische Kontrolle. Denn eine entlang ideologischer Linien gespaltene Wählerschaft könne keinen starken Mehrheitswillen hervorbringen. Zumal Gefühle kollektiver Angst, Ohnmacht und Unsicherheit, wie sie von den Machthabern forciert werden, nicht dazu geeignet sind, rational und selbstvertrauend politisch aktiv zu werden und seine verbrieften Rechte zu verteidigen.
Zurück zur Kunstaktion selbst:
K.-R. Mai findet sie „meisterhaft“. Sie wirke, „weil sie die Obrigkeitshörigkeit, die streberische Untertanenbeflissenheit in Deutschland“ blitzartig sichtbar mache. (S. 48)
In der Tat: auch mich, die ich die kritische Haltung der Schauspieler-Akteure teilte und teile, hatte diese Performance überrascht. Denn daran[1] , dass in der bundesrepublikanischen Gesellschaft die Politiker nicht verlacht werden, dass es kaum Witze über sie gibt (nachdem ich dreißig Jahre lang mit Ulbricht- und Honeckerwitzen gefüttert worden war), hatte ich mich gewöhnt und war „zum Lachen in den Keller gegangen“, wie es so schön im Volksmund heißt. Und darüber, dass die deutschen Intellektuellen zu dem ganzen Wahnsinn der Migrations-, der Klima- und der Coronapolitik (bis auf wenige Ausnahmen) schwiegen, wunderte ich mich auch nicht mehr. Ich erfreute mich also sehr an dieser Aktion, aber kam zudem aus dem Staunen nicht heraus: welch witzige, hintergründige und fantasievolle Verfremdung war Schauspielern da gelungen! Wo kam sie plötzlich her? Ich hatte keine Vorformen bemerkt. Aus welcher Tiefe kam diese spielerische Respektlosig- und Unbotmäßigkeit, dieser freche Humor? Waren hier Hofnarren unterwegs? Anarchisten? Gar Situationisten? Die Realität zur Kenntlichkeit entstellen zu können – diese Fähigkeit war also nicht gänzlich verloren gegangen im Strudel der Alltagsbewältigung mit neoliberalem Vorzeichen?
Meine Überraschung wurde offenbar auch von etlichen Journalisten geteilt. Nachdem ihnen kurz der Atem gestockt war, legten sie los. Was es an Gülle gab, gossen sie über den Akteuren aus. Die Degenerierung ihrer „Kultur“ war aufgespießt worden – jetzt schossen sie zurück. Die Deutungsmacht hatten sie ja immer noch, und sie nutzten diese weidlich aus. Wie mit den Künstlern umgegangen wurde, lesen wir in den drei letzten Beiträgen. Ihnen wurde Zynismus, Verantwortungslosigkeit und Empathielosigkeit vorgeworfen. Ihnen fehle das politische Urteilsvermögen. Sie teilten das Narrativ der „Querdenker“ und erhielten Beifall von der rechten Seite einschließlich der AfD. Sie seien überprivilegiert und arrogant. Ihre Aktion sei ein „Schlag ins Gesicht erschöpfter Pflegekräfte“ (S. 358).
Diesen Verleumdungen und Demontagen waren viele Performer nicht gewachsen. Sie hatten einen solchen Gegenwind mit so wenig Fairness und Nachdenklichkeit nicht erwartet, und sie widerriefen. Auch diese Naivität verwunderte mich. Hatten sie tatsächlich mit Beifall gerechnet und Diskussionsangeboten? Lebten sie vielleicht wirklich in einer Blase, einer Künstlerblase – aber in einem anderen Sinn als die Leitmedien-Journalisten meinten?
Ich habe mich lange und mit wenig Erfolg gefragt, warum die Bundesregierung, statt die Bevölkerung zu beruhigen und Vernunft walten zu lassen, Panik und Angst schürt und einen Teil des Mittelstandes sehenden Auges ruiniert. In diesem Buch finde ich den Ansatz einer Erklärung. Er scheint Wolins Theorie vollkommen zu bestätigen: Ein ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedachte Strategiepapier des Bundesinnenministeriums vom 28. April 2020 stellt die Kommunikationsstrategie vor, mit der Akteure der öffentlichen Kommunikation Handlungsanweisungen, Erzählbausteine und Zielgruppenhinweise erhalten: ein sogenanntes „Narrativmanagement“. Es besagt, dass bestimmte Informationen gezielt ausgeblendet und die Bürger in einen Schockzustand versetzt werden sollten. Und so ging man nicht nur in Deutschland vor. Die britische Regierung hat vergleichbar agiert. (S. 100f.)
Gesundheitsminister Lauterbach scheint ein wirklich gelehriger Schüler zu sein. Irgendjemand müsste ihm aber jetzt einmal laut und deutlich zurufen: Game over! Wir sind schon ein Angstthema weiter!
Trotz zweier Ausflüge ins Akademische ist die Aufbereitung der Kunstaktion „#allesdichtmachen“ ein Sachbuch und gut lesbar. Und sie ein großer Wurf – auch in quantitativer Hinsicht: 428 Seiten, davon nur circa ein Fünftel verschriftlichte Auftritte. Der „Rest“ ist Interpretation und Hintergrundinformation - in den meisten Fällen erhellend und aufschlußreich. Manches wäre auch entbehrlich gewesen. Aber Lakonie ist ein Stilelement der Kunst und lässt sich nicht verallgemeinern.
-------------------------------------------
Literatur:
Michael Meyen, Carsten Gansel, Daria Gordeeva (Hrsg.): #allesdichtmachen. 53 Videos und eine gestörte Gesellschaft, OVALmedia, 2022
Sheldon S. Wolin: Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld, Westend Verlag GmbH, 2022, 24 €
https://abgeordnetenwatch.de/blog/informationsfreiheit/das-interne-strategiepapier-des-innenministeriums-zur-coronapandemie
Über die Autorin:
Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de.
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.