Es ist weniger Satire, die den Stil des Romans prägt, denn ein sachliche, distanzierte Betrachtungsweise ohne jeden Eifer. Von literarischer Qualität ist die Vision des Rechtshistorikers und kosmopolitischen Unternehmers Hermann Janson (1931-2020) nicht: Es wimmelt von Plattheiten, und der narrative Faden ist dünn. Aber lesenswert ist sein Roman dennoch. Er entwirft das Szenario „Globus im Jahre 2050“ nicht mit dem Hintergedanken, die schlimmstmögliche Entwicklung aufzuzeigen, die in der Gegenwart – der Roman ist 2014 erschienen – vorstellbar ist, um vor ihr zu warnen. Vielmehr bekennt er im Epilog, sich bei seiner Extrapolation vom Gefühl leiten gelassen zu haben. Das Gefühl des Autors ist allerdings nicht von Befindlichkeitsreflexion getragen, sondern von Lebens-, Welterfahrung und Menschenkenntnis. 1955 promovierte er zum Thema „Die rechtlichen und ideologischen Beziehungen des islamischen Staatenkreises zum abendländischen Völkerrecht“, setzte sich sein Lebtag mit dem Islam auseinander und publizierte zu diesem Themenkomplex zahlreiche Sachtexte und zwei Romane. 2006 danach gefragt, wie er zu diesem Lebensthema gekommen sei, antwortete er, daß seine Lektüre aller Karl-May-Romane in Kindheit und Jugend für seine Faszination verantwortlich gewesen sei.
Den Schlüssel für ein friedliches Miteinander der Kulturen sah Janson in der Lösung des Nahostkonflikts: „Der Spaltpilz ist zweifelsohne der Nahostkonflikt! Ohne eine Lösung dieser seit vielen Jahrzehnten schwelenden Wunde wird es keinen Frieden und keine Ruhe geben, denn Israel ist jedem Moslem ein Dorn im Auge“. Sein Lösungsvorschlag: den Palästinensern mit massiven wirtschaftlichen Hilfeleistungen, ähnlich dem Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, unter die Arme greifen. „Es muss kräftig in die Bildung und Infrastruktur investiert werden. Israel muss sich auf die Grenzen von 1976 zurückziehen, denn mit Nichtbeachtung der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates hört die Legalität auf.“ An zweiter Stelle stehe der Status der Immigranten in Europa: „Sie sitzen rechtlich zwischen zwei Stühlen in einer prekären Situation. Einerseits sind sie als Moslems verpflichtet, die islamischen Gesetze einzuhalten, nicht nur in religiöser, sondern eben auch in staatsrechtlicher Hinsicht. Andererseits verstossen diese häufig gegen die Verfassungen und Gesetze der nicht-moslemischen Gastländer…Die Integration dieser Moslems würde erleichtert durch ein Fatwa des Scheich-ul-Islam und Gross-Imam, das sie von der Einhaltung koranischen Rechts, welches den Rechtsordnungen zuwider läuft, entbindet.“
Europa einfach aufgelöst
So unkonventionell wie dieser Vorschlag ist auch der Roman, den man als „geostrategischen“ bezeichnen kann. Zu Beginn entwirft der Autor eine Weltordnung des Jahres 2050, wie sie im Geschichtsunterricht des Kalifats gelehrt wurde. Folgende Zwischenschritte führten demzufolge dazu, daß zwischen 2015 und 2025 die „abendländische Gewalt und Anarchie durch die nachhaltig friedliche Weltordnung des Propheten Mohammed“ abgelöst wurde: Zunächst hatten zwei verheerende Kriege die vierhundertjährige Weltherrschaft der europäischen Nationen beendet. Nach Finanzkrisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts verloren der Dollar und der für Mittelmeeranrainer untaugliche Euro drastisch an Wert. Die Sozialsysteme kollabierten, Sparprogramme waren erfolglos. Soziale Verwerfungen führten zu Demonstrationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Wie ein Krebsgeschwür fraß sich ein rot und grün gefärbter Ökosozialismus durch die Europäische Union. „Auf den Rädern von Inflation und Arbeitslosigkeit nahm der von links gesteuerte Gespensterzug unaufhaltsam an Fahrt auf und machte nicht einmal Halt vor Deutschland….“
Unzufriedene Wählermassen verweigerten sich den hilflosen Politikern, die nicht in der Lage waren, der Flut von Wirtschaftsflüchtlingen aus Afrika Herr zu werden, welche Arbeitsmarkt und Sozialsysteme belasteten und häufig in die Kriminalität abdrifteten. Ende der zwanziger Jahre löste sich nicht nur der europäische Verbund auf, sondern dessen Nationalstaaten gleich mit. So erklärte sich der Freistaat Bayern für unabhängig. Andere Bundesländer folgten und fusionierten untereinander. Deutschland existierte nicht mehr. Einige westeuropäische Nationen folgten der Sezession, und Europa wurde zu einem Flickenteppich von Kleinstaaten, die an mittelalterliche Traditionen anzuknüpfen versuchten.
Mittlerweile war aber ein islamisches Kalifat, genannt „Rum“, mit den zwei Hauptstädten Istanbul und Kairo entstanden. Später schloß sich der Iran an, und „Ghom“ wurde zur dritten Hauptstadt des Reiches. Als in zahlreichen Gebieten Europas die Nachkommen muslimischer Immigranten die Bevölkerungsmehrheit bildeten und muslimische Parteien zur stärksten politischen Kraft geworden waren, reifte in den kleinen europäischen Ländern der Wunsch nach einer starken Obrigkeit, die mit Hungersnöten und Unruhen Schluß machte. Die überwiegend grün-muslimischen Regionalparlamente beschlossen förmlich die Fusion ihrer Länder mit dem Kalifat – unter Verzicht auf volle Souveränität und gegen Zusicherung eines mit traditionellen Rechten ausgestatteten Status von „assoziierten“ Völkern. „Die gemeinsame grüne Flagge flatterte den als Atomkraftgegner und Bio-Fanatiker kostümierten, alteingesessenen Proletariern ebenso voran wie der anschwellenden Zahl schnauzbärtiger und kopftuchtragender Parvenüs, ihres Zeichens jetzt Allahs und des Propheten Mohammed politische Sachwalter.“
Nahostkonflikt endlich gelöst
Nun war es an der Zeit, den Schönheitsfleck auf der Landkarte namens „Nahostkonflikt“ zu beseitigen. Auf einer internationalen Konferenz gelang dies, nachdem die vom Niedergang der USA kaum betroffene Jewish Agency sich dazu bereit erklärte, emigrationswillige israelische Juden freizukaufen und Rußland ihnen ein Siedlungsgebiet anbot. Wer nicht emigrieren wollte, wurde so behandelt wie alle indigenen Völkerschaften des Emirats. Das palästinensische Gebiet trat diesem sogleich bei. „Die dauerhafte Festigung des Weltfriedens war auf der ganzen Linie erreicht….2027 hatte der grösste Teil von Europa ein für alle Mal bei jener auf Wüstensand gebauten Weltmacht Unterschlupf gefunden.“
In der Folge ebbte die Flut illegaler Migranten ab und versiegte bald vollständig. Ein Grund dafür war selbstverständlich die neue und strenge Gesetzgebung der Scharia, die 2030 im Großemirat in Kraft trat und die Menschrechte so wenig kannte wie soziale Gerechtigkeit und einen Sozialstaat. Insbesondere die Strafgesetze waren auf Abschreckung ausgerichtet, was zusammen mit dem Verbot der Herstellung, des Vertriebs und des Besitzes von Schußwaffen zu einer schnellen Eindämmung der Kriminalität führte.
Interessant ist es nun zu lesen, wie die Moslems an der Macht dazu übergingen, Realpolitik zu betreiben. Hier finden sich Parallelen zur Antizipation Michel Houellebecqs in seinem Roman „Unterwerfung“. Die neuen Machthaber sind weder Eiferer noch Fundamentalisten, sondern kluge und pragmatische Politiker, die mithilfe geschickter Diplomatie die disparaten Teile ihres Großreiches und ihrer mannigfaltigen Bevölkerung auszugleichen bestrebt sind. Sie neigen zu einer zeitgenössischen Auslegung des Koran und verzichten auf kulturelle Zumutungen, so z.B. auf Bekleidungsvorschriften und ein Verbot des Zelebrierens traditioneller Feiern und Rituale. Zwangsislamisierungen finden nicht statt, aber Konvertiten sind wohlgelitten. Arbeitslose erhalten Almosen oder werden in elektronisch überwachte Gemeindienste eingegliedert. Delinquenten aller Art, Dealer und Fixer werden in von Robotern überwachten Arbeitslagern untergebracht, und auf schwere Delikte – wie z.B. Gotteslästerung – steht die Todesstrafe. Die vormalige Political Correctness hatte auf diesen Zustand gut vorbereitet: „Zivilrechtlich fanden in Rum weiterhin die Normen traditioneller Gesetzbücher wie BGB und Code Civil Anwendung, soweit sie nicht mit denen der Scharia kollidierten.“ Bezüglich der Droge Alkohol gilt Toleranz, solange ihre exzessive Konsumtion nicht folgenschwer und in der Öffentlichkeit sichtbar ist. Der Zahlungsverkehr findet selbstverständlich auf elektronischem Wege statt.
Wie reagiert nun die europäische Bevölkerung auf diesen „Regimechange“?
„Eigentlich waren die Menschen heilfroh, kaum noch gross mit politischen Entscheidungen behelligt zu werden, sich für diese oder jene Staatspräsidenten, Parteien, Parlamente, Koalitionen und Regierungen zu entscheiden.“ Alles halb so schlimm, wiegelten sie mehrheitlich ab. „Besser Frieden unter dem Joch des in zivilen Angelegenheiten toleranten, von Waffen freien islamischen Kalifats, als Krieg zwischen verfeindeten Mächten! Lieber Ruhe und Ordnung unter einer milden Diktatur, als politische Freiheit bei ständiger Gefahr für Leib und Leben!“ Achtung, Rücksichtnahme und Respekt gegenüber Dritten würden höher gehalten als es zuletzt in der untergegangenen europäischen Welt des Individualismus und dem damit verbundenen Sittenverfall üblich war, auch wenn nunmehr die Nächstenliebe nur noch ein Gebot sei, das innerhalb des familiären Kreises Geltung beanspruchen dürfe. „Eine schöne, behagliche Welt, in der man als Jude, Christ oder Atheist lebt, selbst unter Inkaufnahme der Herrschaft des Islam!“
Diese Einschätzung gleicht der des Houellebecqschen Antihelden Francois am Ende des genannten Buches auf’s Haar!
Ist das mehr als eine Fiktion?
Jansons Roman bietet nach diesem Entwurf keine relevante Story mehr, die sich zu erzählen lohnte. Aber die Versuchsanordnung, die er aufbaut, offeriert Stoff zum Nachdenken und Diskutieren. Fragen, die auf der Hand liegen: Wie realistisch ist die Vorstellung, muslimische Funktionäre würden in Europa staatstragende Politik praktizieren? Sind die zu Gewalttaten aufrufenden Textteile des Koran von moderaten Gelehrten tatsächlich zu neutralisieren? Ist der islamistische Kampf gegen Christen und Atheisten nicht längst zum Selbstläufer geworden, so daß bei einer Machtergreifung wie der im Roman geschilderten zunächst ein großes haßgetriebenes Massaker an der europäischen Bevölkerung stattfinden würde, wie wir es gerade in Israel gesehen haben? Gibt es in der Welt heutigen islamischen Zuschnitts überhaupt weise, gebildete und pazifistische Moslems, die vernünftige Mitstreiter in den parlamentarischen restdemokratischen Systemen Europas wären? Könnte man in dieser Konstellation die parlamentarische Demokratie nicht gleich aufgeben, da sie von den „eigenen Leuten“ bereits zu großen Teilen zur Strecke gebracht worden ist? Mit anderen Worten: Ist der Realitätsgehalt des Jansonschen Entwurfes nicht trotz der Expertise des Autors in Sachen Islam eher gering? Und sollten wir uns überhaupt an den Gedanken gewöhnen, daß die dringend notwendigen Systemreformen in Europa eher von den wachsenden muslimischen Bevölkerungsteilen angestoßen werden als von Autochthonen?
Man müßte sich gar nicht mit solchen Fragen beschäftigen, wenn nicht einige Neurechte mit dieser Position sympathisieren würden. So sind Thor von Waldstein und Simon Kießling der Meinung, daß Millionen von Muslimen in Europa eine Realität bleiben würden, „Reconquista“ ein Wunschtraum sei, der in die Sackgasse führe und die Autochthonen alle „traditionalen“ Elemente der Gesellschaft gegen das völlige Verschwinden Deutschlands und der Deutschen in Stellung bringen müßten. Der Islam erweise sich als ausgesprochen resistent gegen den zersetzenden Antitraditionalismus des Westens. Deshalb seien wir gehalten, seinen Vertretern selbstbewusst und mit ausgleichender Absicht zu begegnen.
Tatsächlich? Sollte man nicht zuerst versuchen, seine eigenen Traditionen und Werte zu retten, bevor man sich fremden unterwirft, nur weil diese dem westlichen Werteverfall trotzen, aber alles Nichtislamische bestenfalls zu Folklore degradieren würden? In einem hat Hermann Janson sicherlich recht: Die europäische Bevölkerung würde sich arrangieren und der Großteil der Menschen besteht aus Opportunisten.
Davon, daß sein Entwurf bei aller Neutralität des Erzählers keine wünschenswerte Vorstellung ist, sondern lediglich die Logik der Entwicklung bei perpetuierten regierungsseitigen Fehlentscheidungen zum Ausdruck bringt, zeugt Jansons Antwort auf die Frage, ob seiner Meinung nach die Türkei in die EU aufgenommen werden sollte: Die Türkei sei zu 95% geographisch asiatisch und bevölkerungsmäßig moslemisch und gehöre schon deshalb nicht in die EU, war er im Jahr 2006 überzeugt.
Hermann Janson: AD 2050. Europäisches Kalifat. Eine satirische Vision. Münster Verlag: Basel 2014
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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de
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