Unter dem Begriff „oppositionelle Prosa“ fasst Beate Broßmann an dieser Stelle diejenigen Romane der Gegenwart (seit der Jahrhundertwende) zusammen, in denen ihre Autoren von einer anderen Interpretation der politischen und gesellschaftlichen Situation in den europäischen Ländern der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit ausgehen als sie von der herrschenden politischen Schicht vorgenommen und dogmatisiert wird.
Jeder der zu besprechenden Romane wird danach befragt, welchen Aspekt der realen Entwicklung er thematisiert, auf welche Weise er dies tut und ob er eine erkenntniserweiternde Qualität aufweist
Einen allgemeinen Fragekatalog, der bei jedem Buch abgearbeitet wird, gibt es nicht, um der Spezifik und Tiefendimension jedes Werkes gerecht zu werden und um dieses aus sich selbst heraus erklären zu können.
Teil zwei einer Reihe. Teil eins erschien vergangenen Monat.
Zuerst war da die Besprechung des Buches von Uwe Tellkamp. Ein Meisterwerk sei es, ein großer Wurf, ein Buch von Dauer. Selbst Roland Tichy sprach von „großer Literatur“. Ich war neugierig und freute mich auf die Lektüre.
Nach zehn Seiten tauchte ein Begriff in mir auf, der mich nicht mehr losließ: betulich. Im Laufe der Lektüre trat ein anderer dazu: bieder. Und bis zum Schluß galt leider das Verdikt: bräsig.
Die Eckpunkte des Romans, wie Tellkamp sie zusammenfaßt, klingen tatsächlich nach der „spannenden Geschichte“, die er gelesen haben will: Die vierzigjährige alleinstehende Berlinerin Anna, gebürtig aus Leipzig, erbt von einem ihr unbekannten Mann ein Haus an der Waliser Küste, das „Eschenhaus“. Sie verläßt ihre Heimat und lebt sich ein in der aufregenden Landschaft, lernt zwei Menschen kennen, mit denen sie harmoniert und setzt ihre künstlerische Arbeit in der Fremde fort. Sie findet ein Tagebuch des Erblassers, erfährt von der zunächst beglückenden Begegnung des Briten Norman Argent mit ihren Eltern in Leipzig, wo die drei an der Universität lehrten und forschten. Norman war als Gastdozent berufen worden, weil er den DDR-Behörden als aktiver Linker bekannt war. Als, oder auch weil, er sich in Annas Mutter verliebt hatte, verpflichtete ihn die Stasi zur Mitarbeit und sicherte ihm zu, die eroberte Frau mit nach Großbritannien nehmen zu dürfen, wenn seine deutsche Zeit abgelaufen war. Er sollte den regimekritischen Freundeskreis, in dem er und Annas Eltern verkehrten, beobachten und ihre Gespräche wiedergeben. Das tat er anstandslos. Die erste Fragwürdigkeit: welcher heiß Verliebte verrät seine Angebetete an eine Macht, die ihr und ihren Freunden nichts Gutes will? Die zweite Fragwürdigkeit bzw. Unsinnigkeit: Anna gelangt zu diesen Informationen durch Normans Stasi-Akte. Sie hatte von Großbritannien aus einen Antrag auf Einsichtnahme gestellt, und die Akte wird ihr postwendend von der bundesdeutschen Behörde im Original zugesandt! In Ostdeutschland weiß jeder Erwachsene, daß originale Akten im Höchstfall im Lesesaal der Behörde gelesen werden können. Zur eigenen Verfügung erhält man lediglich Kopien, in denen die meisten Klarnamen von erwähnten Personen geschwärzt sind.
Norman eroberte Annas Mutter Heidi nicht, kehrte mit leeren Händen in die Heimat zurück und hatte nie wieder Kontakt zu den „Freunden“. Die Eltern Annas wurden aufgrund von Normans Berichten aus dem Hochschuldienst entlassen und mußten in niederen Berufen ihren Unterhalt verdienen. Anna litt unter der Dauerfrustration und Verbitterung ihrer Eltern, verbrachte eine trübselige Kindheit und verließ bei der ersten Gelegenheit ihr Zuhause. Dieser Umstand hat allerdings keine Folgen für die Romanhandlung: ein loser Erzählstrang – und nicht der einzige.
Soweit, so DDR-Geschichte. Wenig originell, mehr behauptet, als lebensecht erzählt. Spannend ist daran gar nichts, was vor allem am Erzählstil Bernigs liegt: seitenweise redundante Befindlichkeitsfloskeln der Anna. In einem fort räsoniert sie über ihre Situation in der Fremde, über das Eschenhaus und seine Gegenstände, die sämtlich mit ihr in den Dialog treten: permanente Selbstbespiegelung ohne neue Erkenntnisse. Hin und wieder fühlte ich mich an Christa Wolfs „Selbstvergewisserungen“ erinnert, die ebenfalls von weiblichen Außenseitern formuliert worden sind. Doch zum einen waren sie sprachlich von höherem Niveau und lebten nicht von der permanenten Wiederholung ein und desselben Gedankengangs und Befindens. (Hätte der Lektor die 400 Druckseiten rücksichtslos auf die Hälfte reduziert, wäre vielleicht ein lesenswerteres Buch entstanden.) Zum zweiten war Christa Wolf durch ihre charakterliche Disposition und die Besonderheit ihres künstlerischen Stils die gesellschaftliche Rolle zugefallen, dem unglücklichen Bewußtsein oppositioneller Intellektueller Ausdruck zu verleihen und Positionen und Handlungsmöglichkeiten so zu thematisieren und zu formulieren, daß sie die Zensur ohne große Eingriffe in die Texte passieren konnten. In dieser Situation ist Bernig (noch) nicht. Die Dauerintrospektionen seiner Heldin entbehren jeden narrativen Sinns. Hatten selbst die Befindlichkeiten, die Wolf z.B. in „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“ oder „Kein Ort. Nirgends.“ schilderte, politischen Charakter, stehen die der reinen Privatperson Anna nur für sich selbst: küchenphilosophisch, narzißtisch, obsessiv.
Bis hierher kann der Text als schlechter, aber in sich runder DDR-Roman gelesen werden.
Nun hat aber der Autor, um auf die Höhe unserer Zeit zu gelangen, eine Ebene hinzugefügt, die von vielen so gelesen wird, wie man in der DDR Prosa las: Man suchte nach sogenannten „Stellen“. Und nur um dieser „Stellen“ willen ist Bernigs Buch auf meine Liste oppositioneller Prosa gelangt. Die Darstellung der Situation der Berliner, stellvertretend für die der Bundesbürger, geben solche „Stellen“ ab: die ins Unheimliche gewachsene Anzahl muslimischer Bürger (hier „Otrelier“ genannt) gestaltet das Land um. Parallelgesellschaften haben sich etabliert und führen zu einer staatlich legitimierten Strukturreform, d.h. zur Selbstverwaltung vorwiegend muslimisch bewohnter Gebiete, in denen Sittenwächter das Straßenbild beobachten und Bürger zu „ordnungsgemäßer“ Bekleidung und ebensolchem Verhalten auffordern: eine Situation wie die im Roman „Ruhrkent“ beschriebene.
Und an diesem Punkt wird dann auch der wesentliche qualitative Unterschied zwischen den beiden „Dystopien“ überdeutlich: Hier eine trotz des ruhigen und zurückhaltenden Tons packend geschriebene Milieustudie in ihrem Werden, das künstlerische Zur-Sprache-Bringen der Unfaßbarkeit des Entwicklungsergebnisses, das beim Leser eigene Analysen und Denkprozesse in Gang setzt. Dort eine willkürlich erscheinende Behauptung ohne Rückhalt oder Verwurzelung in der allgemeinen Romanhandlung. (Tellkamps Vergleich mit Huxley, Samjatin und Houellebecq ist dermaßen absurd, daß man an der Satisfaktionsfähigkeit des großen Schriftstellers zweifeln muß. Wahrscheinlicher aber ist, daß ein sächsischer Schriftsteller dem anderen etwas Gutes tun wollte.)
Bei Bernig stehen sich DDR-Welt als Haupt- und die Islamisierung Europas als Nebenerzählstrang unvermittelt gegenüber. Ja, letztere wirkt aufgesetzt und in dieser Aufgesetztheit unglaubwürdig. Das ist schade und eine verschenkte Konstellation. Geht man von Bernigs Erzählgerüst aus, hätte die künstlerische und intellektuelle Herausforderung darin bestanden, literarisch herauszuarbeiten, wie europäische Länder, die mindestens vierzig Jahre lang hochzivilisiert, friedlich, prosperierend, pluralistisch und halbwegs demokratisch funktioniert haben, die scheinbar ohne Not ihre Lebensqualität aufgeben und zu einer sozialistisch-diktatorischen Herrschaft übergehen, die ihre Bürger – wie einst die der DDR – in die Flucht oder die innere Emigration treibt. Dieser Zusammenhang wird in „Eschenhaus“ nicht einmal benannt, geschweige denn ausgeführt. Mit Mitteln der DDR-Literatur ist diese Gegenwartslage auch nicht darstellbar. Man bedenke: In vierzig Jahren (angeblicher) Diktatur des Proletariats litten viele Bürger – vielleicht die meisten – in ihrer Rolle als citoyen „nur“ unter der sich stetig verbreiternden Kluft zwischen Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit, öffentlicher und privater Rede, gepaart mit politischem Druck und repressiver Staatssicherheit, und als bourgeois unter einem im Vergleich mit den kapitalistischen Nachbarländern niedrigen Wohlstandsniveau.
Als Trost fungierte über lange Zeit die soziale und körperliche Sicherheit. Im heutigen Deutschland geht es um mehr: um die Identität als Nation und Volk, um die Freiheit des Individuums angesichts einer stetig expandierenden Datenkrake, die Totalitarismus auf einem viel höheren Niveau ermöglicht als er in den realsozialistischen Ländern jemals erreich- oder auch nur denkbar war. Dazu kommen die reale und relative Verarmung großer Bevölkerungsteile und ein Verlust von körperlicher Sicherheit. Alle diese Punkte sind unerhört und fordern besonders die Westdeutschen auf eine Weise heraus, wie sie im Sozialismus – jedenfalls dem Ostdeutschlands – unbekannt war. Wenn man schon in der Gegenwart einen Roman über die DDR-Geschichte schreibt, kommt man nicht umhin, sie in Beziehung zu setzen zu den vergangenen dreißig gesamtdeutschen Jahren, die unterschiedliche Disposition der Ost- und Westdeutschen und ihre daraus folgende unterschiedliche Reaktion auf die neuen Gegebenheiten zu thematisieren.
Jörg Bernigs „Eschenhaus“ ist eindeutig nicht auf der Höhe der Zeit. Und als Roman vollkommen gescheitert.
Jörg Bernig: Eschenhaus. Edition Buchhaus Loschwitz: Dresden 2023
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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de
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