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Anselm Vogt: VOM ELEND DER SOZIALDEMOKRATIE — Über das Veralten des Rechts-Links-Schemas

Das Mantra des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman, wonach jedes Staatswesen sich irgendwann zwangsläufig und final zu entscheiden habe zwischen umfassender sozialer Sicherung und offenen Grenzen, ist mittlerweile fast so abgegriffen wie zutreffend. Die einzige offene Frage im weiteren Umkreis dieser Feststellung lautet aus deutscher Sicht: "Wann sagt es endlich jemand der SPD?" Anselm Vogt, der an dieser Stelle im September bereits Gedanken zum Klimawandel vortrug, unternimmt einen neuen Versuch.



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Eine verbreitete Reaktion in der Sozialdemokratie auf den dramatischen Stimmenschwund ist die Überzeugung, die SPD müsse nach links rücken, um ihre traditionelle Wählerschaft anzusprechen. Doch die Abwanderung vieler traditioneller SPD Wähler zur AfD lässt Zweifel daran aufkommen, dass ein sogenannter „Linkskurs“ die Krise der SPD beenden könnte. Es ist vielmehr so, dass Themen wie die Sicherheitspolitik, die die Linken gerne als „law and order“-Themen abzuqualifizieren pflegten, gerade für die „einfachen Leute“ an Bedeutung gewinnen. Es fragt sich also, ob die traditionelle Grenzziehung zwischen links und rechts heute noch überzeugt.


Seitdem die Ambivalenz des Fortschritts auch von Linken im Bereich von Wirtschaftswachstum und technologischem Fortschritt erkannt wurde und schließlich wesentlich zur Entstehung der grünen Bewegung beigetragen hat, stellt sich doch die Frage, inwiefern Ähnliches im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Themen Relevanz gewinnen könnte. Konstatierten Horkheimer und Adorno mit ihrer 'Dialektik der Aufklärung' bereits eine Ambivalenz einer technologischen und positivistisch-szientistischen Vernunft, ist heute auch eine Dialektik der emanzipatorischen Vernunft sichtbar, vor der die Linke allerdings häufig die Augen verschließt. In der SPD ist es vielleicht Sigmar Gabriel, der in jüngerer Zeit eine Antenne für diese Problematik entwickelt hat, indem er etwa feststellte, dass die Menschen heute ein wachsendes Bedürfnis nach Grenzen entwickelten. Hierbei geht es allerdings nicht nur um Grenzen des Wachstums und Grenzen menschlicher Naturausbeutung, sondern auch um Grenzen der Öffnung für Asyl oder Einwanderung, um Grenzen des Abbaus der Autorität von Institutionen oder auch um Grenzen der Zuversicht, einen Rechtsstaat überwiegend durch sozialpädagogische Maßnahmen durchsetzen zu können.


So ist es ist der Eindruck vieler Menschen, dass der Rechtsstaat nicht mehr in der Lage ist, sein Gewaltmonopol durchzusetzen. Dieser Eindruck wird gespeist durch das Empfinden, dass in

unserem Rechtssystem zu mild geurteilt werde oder Urteile gar nicht vollstreckt würden, dass die Strafverfolgung durch personelle Unterbesetzung der Polizei zu wünschen übrigließe. Dazu kommt der Verdacht, dass durch die Einwanderung sich das Sicherheitsproblem verschärft habe, wenn man etwa an die Clan-Kriminalität denkt. Zu diesem Zustand von Justiz und Polizei hat neben der Sparpolitik und dem damit verbundenen Mantra vom schlanken Staat vor allem das linke bzw. linksliberale Ressentiment gegen das geführt, was man „Law und Order“ nannte.


Das liberale Misstrauen gegen den Staat stammt aus der Zeit des autoritären Obrigkeitsstaates, in der die Hauptgefahr für die Freiheit von staatlicher Willkür ausging. In einer permissiven Gesellschaft, in der eher die Respektlosigkeit gegenüber „Autoritäten“ um sich greift, und der Staat sich gegenüber organisierter Kriminalität, aber auch gegen international agierende Unternehmen ohnmächtig zeigt, erscheint diese Haltung obsolet zu sein. Der gegen diese Beobachtungen angeführte Rückgang der Kriminalität muss differenziert betrachtet werden. Ein großer Anteil des Rückgangs geht auf das Konto rückläufiger Zahlen bei den Einbrüchen, die mit der Schließung der Balkanroute zusammenhängen. Dagegen ist ein Anstieg bei den Morden und den Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu verzeichnen.


Die überproportionale Beteiligung von Flüchtlingen an sexuellen Übergriffen bzw. Gewaltdelikten wird gerne wegdiskutiert oder gegen die Gewalttaten gegen Flüchtlinge aufgerechnet. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies gerade zur Verunsicherung der traditionellen Klientel der SPD beiträgt. Eine Klientel, die nicht wie die Funktionäre der Partei in Villenvierteln, sondern in sozialen Brennpunkten wohnt und sich keine privaten Sicherheitsdienste leisten kann. Dass solche Menschen zur AfD überlaufen, lässt sich nicht durch eine Zunahme faschistischer Gesinnung, sondern das legitime Bedürfnis nach Sicherheit erklären. Der Einwand, diese Unsicherheit wäre der Preis der Freiheit, überzeugt nicht. Vieles, was Liberale im Namen der Freiheit fordern, etwa den Verzicht auf Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen oder den Verzicht auf Vorratsdatenspeicherung, leistet keineswegs einen Beitrag zur Erhaltung, sondern zur Gefährdung der Freiheit. Dies entgeht den Linksliberalen regelmäßig, da sie nicht erkennen, dass Sicherheit für den kleinen Mann eine Voraussetzung für die Freiheit ist, sich im öffentlichen Raum ohne Angst zu bewegen.


Die Polarität von Freiheit und Sicherheit war so lange plausibel, wie die Hauptgefahr für die Freiheit von der Willkür staatlicher Sicherheitskräfte ausging. Heute aber geht die Hauptgefahr für die Freiheit von der Schwäche des Rechtsstaates aus, der zunehmend nicht in der Lage ist, sein Gewaltmonopol durchzusetzen. Wer heute spät abends in Ballungszentren mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, kann die tiefe Verunsicherung der einfachen Leute angesichts der brisanten Mischung von Überfremdung und Verrohung verstehen. Dass Leute sich als Fremde im eigenen Lande fühlen können, ohne etwas gegen Fremde zu haben, entgeht häufig den führenden Funktionären linker Parteien, die offensichtlich solche elementaren Erfahrungen nicht mehr machen. Dass also heute ein traditionell rechtes Thema wie Sicherheit ein Thema von Parteien sein müsste, die vorgeblich den Interessen der kleinen Leute dienen, entgeht vielen Linken zum Teil aus ideologischen Gründen, teils wegen tiefer Entfremdung von ihrer ursprünglichen Klientel. Die Ablehnung dessen, was man „law and order“ nannte, hat im linken Spektrum auch mit der Dominanz eines von Rousseau beeinflussten Menschenbildes zu tun, das vor allem die Bildungs- und Sicherheitspolitik der Linken und Grünen, aber auch der SPD beeinflusste. Hiernach ist der Mensch von Natur aus gut, wenn man ihn nur zur freien Entfaltung kommen ließe. Repressive polizeiliche Maßnahmen oder militärische Interventionen sind von diesem Menschenbild aus verdächtig. In Bezug aufs Militär ist man grundsätzlich pazifistisch, in Bezug auf Kriminalität ist man sozialpädagogisch, in der Bildung und Erziehung permissiv. Insofern ist die in jüngster Zeit beklagte personelle Unterbesetzung der Polizei oder die schlechte Ausstattung der Bundeswehr nicht nur der Sparpolitik, sondern auch dem von Rousseau beeinflussten Menschenbild geschuldet.


Wenn man heute das Erstarken des Rechtsradikalismus und insbesondere des Antisemitismus analysiert, ist man erstaunlich schnell dabei, die AfD zum Hauptverantwortlichen zu erklären. Ohne bestreiten zu wollen, dass das identitäre Denken des rechten Flügels der AfD durchaus eindeutig fremdenfeindliche Äußerungen provoziert, ist doch zu konstatieren, dass die AfD selbst nicht die Ursache rechtsextremer Gewalt, sondern die Wirkung von Versäumnissen der etablierten Parteien ist, die wiederum ein Klima begünstigt haben, in dem rechtsradikales Gedankengut gedeihen kann. So ist - horribile dictu - die Äußerung von Alexander Gauland gar nicht völlig abwegig, dass die Willkommenskultur dazu einen Beitrag geleistet hat.


Es gehört nun zu den Irrtümern vieler Linker, dass es human und damit moralisch überlegen sei, möglichst Flüchtlinge unbegrenzt aufzunehmen und Einwanderung ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse des eigenen Landes oder die Herkunftsländer zuzulassen. Wenn man von diesem Dogma ausgeht, ist es links, jegliche Begrenzung von Einwanderung und Asyl abzulehnen. Der Gedanke an die eigenen Arbeitnehmer, die eventuell mit Flüchtlingen oder Einwanderern um knappe Arbeitsplätze oder knappen Wohnraum konkurrieren, erscheint von diesem Standpunkt aus als rechts und inhuman. Auch die Vorstellung, dass es häufig junge, kräftige Menschen sind, die in den Herkunftsländern fehlen, die eine Flucht schaffen, ist offenbar im Sinne linker Dogmatik nicht politisch korrekt.


Doch was verbindet die oben behandelten Themen wie Sicherheit, Einwanderung oder Permissivität, sodass von einer Dialektik der Emanzipation gesprochen kann? In Bezug auf die permissive Gesellschaft kann man von einer Ausdehnung der Willkürfreiheit auf Kosten der Selbstbestimmung sprechen. Selbstverwirklichung wird heute auf Kosten der Selbstbeherrschung so ausgedehnt, dass die Entgrenzung der äußeren Freiheit mit einem Verlust an innerer Freiheit bezahlt wird.


Der grenzenlose Glaube an die Selbstentfaltung hängt mit dem von Rousseau geprägten Bild eines Menschen zusammen, der von Natur aus gut ist. Dies führt dann schließlich auch zu der Vorstellung, dass im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit auf Repression und Zwangsgewalt weitgehend verzichtet werden kann. Dies führt in der Justiz- und Strafverfolgungspolitik zum Glauben an Sozialpädagogik und in der Außenpolitik zu der pazifistischen Illusion, man könne durch Verzicht auf Rüstung allein den Frieden in der Welt garantieren. Diese Vorstellungen verbinden sich zudem mit gesinnungsethischen Vorstellungen von der moralischen Überlegenheit einer Politik der vermeintlich reinen Gesinnung, die sich die Hände nicht durch Realpolitik schmutzig machen muss. Genau wie in der Umweltbewegung ein Schuss konservativer Skepsis gegenüber dem ungebremsten Fortschrittsoptimismus kultiviert wurde, müsste Ähnliches auch im Bereich von Sicherheitspolitik, Einwanderungs-bzw. Asylpolitik oder auch der Bildung und Erziehung wirksam werden, um die verhängnisvollen Folgen der oben genannten Dialektik der Emanzipation einzudämmen. Nur durch einen solchen Abschied von linken Klischees könnte die SPD ihr Tief überwinden, anstatt den Grünen und der Linkspartei hinterherzulaufen.




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Über den Autor:


Anselm Vogt (* 1950 in Suhl) promovierte 1978 mit einer Arbeit über Karl Marx an der Ruhr-Universität Bochum. Er unterrichtete zunächst an der Fachhochschule Bochum und später an einem Gymnasium ebendort. Heute unterrichtet er Philosophie an verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Nebenher arbeitete er als Kabarettist, Jazzmusiker, Parodist und als Verfasser von Aphorismen und philosophischen Essays.


 

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