Während ich diese Zeilen schreibe, dauert der Krieg in der Ukraine an. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis sich die zahlenmäßige und waffentechnische Überlegenheit der russischen Armee durchsetzen wird. Der durchaus heroische Widerstand der Ukraine ist ein reiner Verzögerungskampf. Gewinnen kann sie diesen Krieg militärisch nicht, politisch wird sie aber siegen.
Der Krieg nähert sich auf Seiten der Ukraine immer mehr dem an, was in der Kriegstheorie als existentieller Krieg, im Gegensatz zum instrumentellen, definiert wird. Hier ist der Krieg nicht mehr ein Mittel der Politik, sondern ein Medium der Konstitution einer politischen Größe, die Identität verspricht. Solche Formen des Krieges neigen zur Eskalation, indem sich die kriegerische Energie von traditionellen Werten und normativen Setzungen emanzipiert. Die russische Führung scheint den Widerstandswillen der ukrainischen Führung und der Bevölkerung, nach allem was wir im Nebel des Krieges erkennen können, unterschätzt zu haben.
Autokratien wie das Russland Putins neigen zur Abkapselung von der Realität. Es ist bekannt, dass der Kremlchef seit dem Beginn der ersten Meldungen über ein neuartiges Virus sich häufig in einem Bunker außerhalb von Moskau aufhält. Wer ihn besuchen will, muss sich desinfizieren und testen lassen. Die Bilder seines überlangen Tisches, an dem er mindestens zehn Meter entfernt von seinen Besuchern sitzt, gingen in den Medien viral. Auch das Symbol einer Distanz zur Außenwelt. Aber überlassen wir die Interpretation über die psychische Verfassung Putins den Psychologen und sehen uns die aktuelle Lage nüchtern an. Ein wirklicher Krieg unterscheidet sich stets von dem auf dem Papier, denn, so der bekannteste Philosoph des Krieges, Carl von Clausewitz: „Das Handeln im Kriege ist eine Bewegung im erschwerenden Mittel“, woraus er folgert: „Selbst der beste Plan überlebt den ersten Feindkontakt nicht.“
Was aber war der Plan, was ist das Kriegsziel, das Motiv der russischen Führung? Dazu gibt es im Westen eine Vielfalt von Hypothesen und Theorien: Die Angst vor einer Erweiterung der NATO an der russischen Grenze? Der Rückgewinn von Einflussgebieten in Osteuropa? Die Zerstörung der kulturellen Identität der Ukraine? Die Bildung eines großrussischen Reiches mit Kiew als der „Mutter aller russischen Städte“? Der bekannte amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski vertrat in diesem Zusammenhang schon vor längerem die These, „dass Russland mit der Ukraine ein Imperium ist, ohne Kiew aber nur ein großes Land“. Oder zielte der Angriff auf eine geopolitische Neuordnung der Welt mit den USA als altem Hauptrivalen, was die Annäherung an China und auch Indien erklären könnte?
Vielleicht muss man aber gar nicht von einem klaren Plan ausgehen, obwohl die Kriegsziele vor dem Beginn der Kampfhandlungen im Eigentlichen als Orientierung dienen sollten. Schon Clausewitz hatte in seinem Hauptwerk Vom Kriege zu den Kriegszielen geschrieben: „Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel. Durch diesen Hauptgedanken werden alle Richtungen gegeben, der Umfang der Mittel, das Maß der Energie bestimmt, und er äußert seinen Einfluss bis in die kleinsten Glieder der Handlung hinab.”
Was wir derzeit von der russischen Führung sehen ist m. E. ein Oszillieren zwischen unterschiedlichen Kriegszielen: von Maximalforderungen, dem Sturz der Regierung in Kiew und einem „Regime Change“ bis hin zum Mindestziel der Verhinderung eines NATO-Beitritts der Ukraine. Der strategische Vorteil Moskaus besteht darin, als der militärisch Überlegene die unterschiedlichen Ziele je nach Kriegsverlauf variieren zu können. Allerdings werden die Spielräume kleiner, je länger der Krieg andauert. Eine diplomatische Lösung ist derzeit (noch) nicht denkbar, was Putin innen- und geopolitisch in die Defensive drängt, denn weder trifft die Invasion auf große Zustimmung in Russland selbst, noch will China sich vorbehaltlos an seinen neuen Partner binden. Obwohl es, nach allem was wir wissen, wahrscheinlich ist, dass die chinesische Regierung vom Einmarsch in die Ukraine wusste, gab es bereits kurz nach dem Angriff erste Absetzbewegungen. China wird mit Blick auf die eigenen Ziele kaum Ambitionen zeigen, sich in einem globalen Wirtschaftskrieg allzu deutlich an der Seite Putins zu positionieren. Vielleicht wird China am Ende auch als der Vermittler auftreten und seine Position gegenüber Russland und insgesamt in der Welt weiter stärken können, also der eigentliche Sieger sein.
Sollte in den nächsten Tagen keine diplomatische Lösung gefunden werden, bleiben Putin nicht mehr allzu viele Optionen: einmal eine militärische Eskalation, bei der mit schwerer Artillerie und Luftangriffen die großen Städte der Ukraine, vor allem Kiew, zerstört werden, um einen Machtwechsel sozusagen herbeizubomben. Aber erfüllt die russische Armee mental die Voraussetzungen, ähnlich hemmungslos in Kiew wie in Grosny oder Aleppo vorzugehen? Zumindest sind hier Zweifel angebracht, wobei natürlich jeder Krieg zur Eskalation neigt. Auf der anderen Seite würde Putin einen Rückzug der Armee und den Abbruch des Krieges politisch wohl nicht überleben. Zumindest müsste er plausible Gründe anführen, um den Einsatz und die vergeblich gebrachten Opfer vor der russischen Bevölkerung zu legitimieren.
Es bietet sich insgesamt eine Parallele zur amerikanischen Kriegführung im Irak an, wo das weitgefasste Ziel ebenfalls „Regime Change“ lautete. Bekanntlich konnten die USA den Krieg gegen die Truppen Saddam Husseins rasch gewinnen, mussten danach aber zur Kenntnis nehmen, dass ein militärischer Sieg bei Vorhandensein einer opferbereiten Bevölkerung, die den Besatzer nicht anerkennt, keine Bedeutung mehr hat. Ähnliches könnte der russischen Armee in der Ukraine drohen, falls der Widerstand sich nach dem Ende der eigentlichen Kampfhandlungen fortsetzt. Zudem ist im Vorfeld einer Kapitulation ein Häuserkampf in Großstädten – das war schon die Erfahrung in Stalingrad – extrem verlustreich. Jede professionelle Armee will das verhindern, da die waffentechnische Überlegenheit hier kaum mehr greift. Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass die Erfahrungen im zehn Jahre andauernden Afghanistankrieg (1979-89) der Roten Armee offenbar auf russischer Seite „vergessen“ worden sind. Wir erinnern uns an die Demonstrationen von Soldatenmüttern vor dem Kreml und die innenpolitischen Erschütterungen dieser Zeit. Der Afghanistankrieg hat mit zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt. Ein langanhaltender Guerillakrieg bei verschärften Wirtschaftssanktionen des Westens wird Russland auch heute an seine ökonomischen wie militärischen Grenzen führen. Deshalb muss der Krieg so schnell wie möglich militärisch gewonnen werden. Auch demografisch ist Russland nicht mehr in der Lage, einen opferreichen Krieg zu führen.
Im Prinzip ist dieser Krieg für Putin bereits politisch verloren, auch wenn er militärisch gewinnen wird. Die Invasion der Ukraine zeigt nicht nur die geopolitische Schwäche Russlands, die nur durch die Tatsache, die stärkste Atomstreitmacht der Welt zu sein, noch verdeckt wird. Es ist auch deutlich geworden, dass Moskau auf den globalen Märkten nur als Rohstofflieferant eine relevante Rolle spielt.
Die Wirtschaftsleistung ist in Anbetracht der Größe des Landes, seiner Ressourcen und einer gut ausgebildeten Bevölkerung erschreckend schwach. Im Jahr 2020 betrug das Bruttoinlandsprodukt gerade einmal 1,48 Billionen Dollar. Diese Zahl lässt sich gewichten, wenn wir uns die USA und China ansehen, deren BIP 20,94 bzw. 14,72 Billionen Dollar beträgt. Selbst Deutschland verfügt über ein mehr als doppelt so hohes BIP (3,84 Billionen). Ökonomisch ist Russland also ein „Zwerg“, vergleicht man es mit den großen weltpolitischen Playern. Mit den nun verhängten Sanktionen und der Absicht der westlichen Länder, sich in den nächsten Jahren von russischem Gas, Kohle- und Ölimporten unabhängig zu machen, wird Russland ökonomisch noch mehr zurückfallen. Und welche ausländischen Investoren oder Banken werden noch in Russland investieren wollen, falls das in absehbarer Zeit wieder möglich sein wird? Natürlich hat sich Moskau in den letzten Jahren mehr nach Osten und zum pazifischen Raum hin orientiert, aber China wird nicht alles an Verlusten kompensieren können und wollen. China steht nun in einer ausgezeichneten Verhandlungsposition und wird sicher mit wesentlich besseren Preisen als die der Europäer und Amerikaner der Abnehmer russischer Rohstoffe sein. Der eigentliche Rivale der USA ist schon längst China; Russland spielte zuletzt nicht mehr wirklich eine große Rolle. Ob Europa, dessen Länder nun in Abgrenzung zu Russland, zumindest temporär, näher zusammenrücken, in Zukunft wieder ein stärkerer geostrategischer Spieler sein wird, muss offenbleiben, ist aber unwahrscheinlich. Militärisch ist Europa augenscheinlich zu schwach, was aber mehr einer mentalen Disposition geschuldet ist (exemplarisch bei Deutschland zu beobachten).
Kehren wir am Ende nochmals zum Krieg in der Ukraine zurück: Selbst wenn Kiew in den nächsten Tagen fallen sollte, werden die Bilder aus den zerstörten Städten der Ukraine in Russland, trotz der Zensur, innenpolitisch zu einem wachsenden Problem werden. Schon jetzt findet der Angriff in der eigenen Bevölkerung nur wenig Zustimmung, wenngleich es natürlich schwierig ist, hier belastbare Informationen zu erhalten. Die Ukraine ist aber nicht Syrien, und der Beschuss durch schwere Artillerie – Granaten und Raketen – auf ein „Brudervolk“ ist auf Dauer nur schwer, wenn überhaupt, begreiflich zu machen. Auch die semantische Umbenennung des Angriffs in eine „begrenzte militärische Sonderoperation“ wird bei Fortdauer der Kampfhandlungen immer fadenscheiniger. Kann dieser Krieg also auch das mögliche Ende Putins sein? Das halte ich nicht für ausgeschlossen, wenngleich er Geheimdienst, Polizei und Militär noch beherrscht. Sollte es aber zu einem Fall Putins kommen, wird sich die Tektonik der Welt vermutlich weit drastischer verändern, als wir das uns heute vorstellen können. Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders. Derzeit wage ich hier keine Prognose.
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ALEXANDER MESCHNIG, geb. 1965 in Dornbirn (Österreich), Dr. phil., Studium der Psychologie und Pädagogik in Innsbruck, Promotion am Institut für Politikwissenschaften der HU Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a.: Uns kriegt ihr nicht. Als Kinder versteckt – jüdische Überlebende erzählen. München 2013 (gem. mit Tina Hüttl). Der Wille zur Bewegung. Militärischer Traum und totalitäres Programm. Vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus. Bielefeld 2008. Arbeit als Lebensstil (Hrsg.). edition suhrkamp. Frankfurt/Main 2003. Stammautor des politischen Blogs der Achse des Guten. Lebt und arbeitet in Berlin. Gemeinsam mit Parviz Amoghli: Siegen oder vom Verlust der Selbstbehauptung. (Die Werkreihe von TUMULT, Bd. 5). Lüdinghausen/Berlin 2018. Zuletzt: Deutscher Herbst 2015. Essays zur politischen Entgrenzung. Lüdinghausen/Berlin 2018.
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