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Akos Doma rezensiert ADORJÁN KOVÁCS: SÁNDOR PETÖFI. ‚DICHTER SEIN ODER NICHT SEIN‘. DICHTUNG UND DEUTUNG

Es gibt einen Typus Dichter – es sind fast ausnahmslos immer Dichter, die für eine Nation zu einer kollektiven emotionalen Identitäts- und Orientierungsfigur werden – bei denen literarische Anerkennung in Liebe umschlägt. Sie erlangen eine außergewöhnlich große und bleibende Popularität und werden noch Jahrhunderte später als ein nationaler Schatz gehütet. Robert Burns, Giacomo Leopardi, Alexander Puschkin, Adam Mickiewicz, Karel Hynek Mácha, im zwanzigsten Jahrhundert etwa Federico García Lorca, Attila József, Sergei Jessenin, Dylan Thomas oder Jewgeni Jewtuschenko. Kaum ein Dichter verkörpert diesen Typus derart vollkommen wie der ungarische Romantiker Sándor Petőfi.





Die Bedeutung Petőfis für Ungarn beruht auf gleich zwei Säulen. Zum einen auf der volkstümlichen Natur vieler seiner Gedichte – Petőfi verstand und sprach die unmittelbare, unverstellte Sprache der einfachen Menschen, kannte ihre Mentalität und Lebenswirklichkeit –, zum anderen auf der führenden Rolle, die er bei der nationalen Revolution von 1848 als Dichter und als Person gespielt hat. Viele seiner humoristischen oder volksnahen Gedichte wie „An Laci Arany“, „Mutters Huhn“, „Gescheiterter Vorsatz“, „Wenn du ein Mann bist, dann sei ein Mann”, „Schenke steht am Dorfesrande“ oder sein Epos „Held János“ gehören genauso zum kulturellen Gemeingut Ungarns wie sein „Nationallied“, das die anti-habsburgische Revolution von 1848 entfesseln half und somit sprichwörtlich von historischer Bedeutung ist. Sein Werk und sein bedingungsloser Glaube an das Ideal der Freiheit wurden durch sein Verschwinden und seinen vermuteten Tod mit sechsundzwanzig Jahren bei der Schlacht bei Segesvár 1849 – den frühen Tod hat er mit den meisten Dichtern dieses Typs gemeinsam – gleichsam existentiell beglaubigt.

 

Ein Vorläufer der literarischen Moderne

 

Diesem landläufigen Bild Petőfis als naiv-naturhafter, romantischer Dichter und revolutionärer Volksheld setzt Adorján Kovács in seiner zum 200. Geburtsjahr Petőfis erschienenen Monographie Sándor Petőfi. ‚Dichter sein oder nicht sein‘ das Bild eines bewusst schaffenden, experimentellen Künstlers und Vorläufers der literarischen Moderne entgegen. Er macht Petőfis Modernität vor allem an fünf Aspekten seines Werkes fest: seiner Proteushaftigkeit (Vielseitigkeit), seiner Vielschichtigkeit (Widersprüchlichkeit), seiner Experimentierfreude, seiner Vorwegnahme zukünftiger literarischer Entwicklungen und seiner Verwendung der variierten Wiederholung als vornehmliches poetisches Mittel.

 

Kovács‘ Buch ist keine chronologisch voranschreitende Untersuchung von Petőfis Werk, sondern eine Sammlung von Essays über einzelne Themen und Elemente seiner Dichtung, die dank geschickter biographischer oder thematischer Überleitungen dennoch ein kongruentes Ganzes bilden. Ein einleitendes Kapitel gibt einen Einblick in die Geschichte der Petőfi-Rezeptionen in Ungarn und im deutschsprachigen Raum, die meist im Zeichen der konventionellen, weltanschaulich gefärbten Lesearten Petőfis als romantischer Natur- und Liebeslyriker, als Nationalrevolutionär oder als Frühsozialist und Klassenkämpfer stehen. Demgegenüber gilt Kovács‘ Interesses dem Dichter, dem bewusst agierenden Form-Künstler Petőfi.

 

Er hebt vor allem Petőfis „proteischen Zugang zur Literatur“ hervor, seine fundamentale Ambivalenz und Widersprüchlichkeit. Obwohl Petőfi der Inbegriff des subjektiven Dichters zu sein scheint, gäbe es in Wahrheit „viele Petőfis“, der eigentliche Autor würde hinter seinen vielfältigen Texten verschwinden. Petőfi verfüge über eine „unglaubliche Virtuosität“, sei „in der Mannigfaltigkeit seiner Sprachregister fast unerschöpflich“ und beherrsche zudem das Schwierigste überhaupt: die „Kunst der Kunstlosigkeit“. In seiner Radikalität, seiner Exprimentalität und seiner Antizipation neuer literarischer Formen könne Petőfi sogar als Avantgardist bezeichnet werden.

 

Hang zur Dekadenz?

 

In rund fünfzehn Kapiteln beleuchtet Kovács zentrale, bisher meist vernachlässigte oder übergangene Aspekte von Petőfis Dichtung: Petőfi als Naturalist; Petőfi als souveräner Meister klassizistischer Formen und antiker Versmaße, aber auch der Umgangssprache und des lyrischen Parlando; Petőfi als Vorläufer der poésie pure, einer Dichtkunst, die keine Botschaft oder symbolische Bedeutung beinhaltet, sondern nur für sich selbst steht – im Gegensatz zu seinem Ruf als Vertreter der poésie engagée; Petőfi als Vorläufer von Surrealismus und Dekadenzdichtung. Kovács schöpft bei seinen Analysen aus einem großen Wissensfundus und einer tiefen Kenntnis der Petőfi-Literatur, stellt Bezüge zu so unterschiedlichen Literaten wie de Grainville, Mary Shelley, Heinrich Heine, Conrad F. Meyer, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, Arthur Rimbaud, Cesare Pavese, Gottfried Benn und Jean-Paul Sartre her.

 

Kovács‘ Monographie bietet eine durchweg anregende, tiefschürfende Reise durch das Werk Petőfis. Das gilt auch dann, wenn man seinen Thesen nicht ganz folgen möchte. Etwa wenn Petőfi, dem seit jeher eine „gesunde“ und „natürliche“ Emotionalität beschieden wurde („seine Welt ist die Gefühlswelt jedermanns“, wie Antal Szerb schrieb), anhand einiger seiner radikalen Gedichte eine „morbide“ und „perverse Erotik“ bescheinigt oder wenn er in die Nähe von Dekadenzdichtung und Surrealismus gerückt wird, eine Einschätzung, die Kovács allerdings auch selbst relativiert. Eine solche Sichtweise lässt außer Acht, dass Petőfi von grundsätzlich anderer geistiger Disposition als die Protagonisten dieser Strömungen war. Denn trotz der exzessiven, surrealen und verzweifelten Momente, die es in seinem mannigfaltigen Werk auch gibt, blieb Petőfi stets fest verankert in einem Wertesystem, dessen Ideale Freiheit, Liebe, Ehre, Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und republikanische Gesinnung er nie preisgab. Eine solche bejahende Haltung der Überzeugung, des unerschütterlichen Glaubens ist grundsätzlich unvereinbar mit dem nihilistischen Bodensatz von décadence und Surrealismus. Petőfis Verzweiflung an der Welt, seine Empörung über ihre Ungerechtigkeiten, ihre scheinbare Sinnlosigkeit, wie sie etwa in den Gedichten „Der letzte Mensch“, „Licht!“, „Der Wahnsinnige“ oder „Das Urteil“ anklingen, sind von einem existentiellen Ernst, dem nichts ferner liegt als dekadenter Lebensüberdruss oder narzisstisches Posieren in Byronscher Manier oder auch der zynisch-schwarzhumorige Unernst der Surrealisten.

 

Schwierigkeit der Übersetzung

 

Kovács zieht für seine Analysen rund einhundertzwanzig sowohl bekannte als auch weniger bekannte Gedichte Petőfis heran, die auch als eine Werkauswahl gelesen werden können. Hier sollte allerdings ein grundsätzliches Problem nicht unerwähnt bleiben, das freilich weder ein Problem des Buches noch ein Spezifikum Petőfis ist: die Unmöglichkeit, Dichtung adäquat zu übersetzen. Liest man Petőfis Gedichte in deutscher Übersetzung, wird man weder seine literarische Größe voll erfassen, noch nachvollziehen können, warum er für eine Nation eine solche emotionale Bedeutung erlangen konnte. Das hängt zum einen mit den Schwierigkeiten zusammen, ein Gedicht in all seiner formalen Komplexität und Dichte in eine neue Sprache zu übertragen, zum anderen mit dem Fehlen des jeweiligen kulturellen Hintergrundes. Erst eine muttersprachliche – im Falle Petőfis ungarische – Sozialisierung oder eine intensive Beschäftigung mit der jeweiligen Sprache ermöglichen dem Leser, den Klang, die Schwingungen, die Nuancen, den Geruch, den eigen-artigen Zauber eines Gedichts, aber auch die historischen und kulturellen Tiefenschichten, die darin widerhallen, aufzunehmen. Während Prosa als eine offenere, rationalere Form meist gut übersetzbar und damit allgemeinverständlich ist, scheint der Dichtung in ihrer Intimität, Geschlossenheit und Emotionalität eine Qualität innezuwohnen, die sie in einem ganzheitlich-existentiellen Sinn tatsächlich nur ihrem eigenen Sprach- und Kulturkreis zugänglich macht. Vielleicht auch deshalb wird sie von diesem wie sein ur-eigener Schatz gehütet und geliebt.

 

Der Band schließt mit einer ausführlichen Liste der verwendeten Literatur und einer sehr hilfreichen, tabellarischen Chronik von Petőfis Leben in Gegenüberstellung zu den politischen und kulturellen Ereignissen seiner Zeit. Das Verzeichnis der Gedichte nach ihrem Entstehungsjahr hätte noch durch ein alphabetisches Verzeichnis der Titel samt Originaltiteln ergänzt werden können, vor allem für Leser, die nach den ungarischen Versionen der Gedichte suchen. Das beeinträchtigt jedoch in keiner Weise den Lesegenuss, der an keiner Stelle in akademischer Monotonie versandet, umso mehr aber den Geist eines souveränen Essayisten und Interpreten atmet und damit vielleicht tatsächlich zum erklärten Ziel des Buches beiträgt, „besser zu verstehen, warum Petőfi ein so großer Dichter“ war, ein „sprachliches Genie“, dessen in kaum mehr als fünf, sechs intensiven Jahren entstandenes Werk in den innersten Kreis der Weltliteratur gehört.

 

Adorján Kovács: Sándor Petőfi. ‚Dichter sein oder nicht sein‘. Dichtung und Deutung. Arnshaugk Verlag: Neustadt an der Orla, 34 €

 

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Über den Autor: Akos Doma, geb. 1963 in Budapest. Schriftsteller und literarischer Übersetzer aus dem Ungarischen, u.a. von László F. Földényi, Sándor Márai und Péter Nádas. Sein Roman Die allgemeine Tauglichkeit erhielt 2011 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, Der Weg der Wünsche war 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sein neuer Roman Das Haus in Limone erscheint im Februar 2024.




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