I.
Im „Magazin für Kultur & Künftiges“, wie sich die interessante und erfreulich junge Zeitschrift „anbruch“ selber nennt, behauptet Jonas Maron in seiner Besprechung: Dass Martin Mosebach in seinem neuen Roman „Krass“ als Sprachkünstler und Erzähler zu „einsam hoher Form“ auflaufe, „darüber herrsch[e] ratlose Einigkeit unter den Rezensenten aus aller Herren Verlagshäuser.“ Das stimmt aber nicht ganz, denn ein Tobias Rüther hat in der „FAS“ doch Manches am „manierlichen Stil“ des Autors auszusetzen, dessen Erzählweise wiederum in „DLF Kultur“ ein Helmut Böttiger „altväterlich“ nennt. Und auch das, was die Rezensenten am Buch loben mochten, geht doch am Kern vorbei und zeigt das für das „beste Deutschland, das wir jemals hatten“ (Joachim Gauck und Frank-Walter Steinmeier) typische Unverständnis, mit dem ein Schriftsteller leben muss, dessen geläufige Bezeichnung als „katholischer Reaktionär“ nur denunzieren soll, ohne dass über die Bedeutung von Eigenschafts- und Hauptwort auch nur halbwegs ernsthaft nachgedacht worden wäre.
Freilich stehen hinter den Figuren „Silhouetten von Göttern“, Mythen überhaupt, wie Mosebach in einem Interview für die „Tagespost“ konzediert; man bemerkte eine Anspielung auf den Ring des Polykrates als Symbol für die Wechselhaftigkeit des Glücks. Auch spielt nicht umsonst Ingres‘ Gemälde „Jupiter und Thetis“ eine gewisse Rolle im Buch: Jupiter steht für den reichen Machtmenschen und hochstaplerischen Waffenhändler Ralph Krass, Thetis für die unabhängige, „vorurteilslose“ Abenteurerin und Galeristin Lidewine Schoonemaker, recht besehen eigentlich ein freundliches Nuttchen. Mosebach urteilt nicht über seine Figuren, auch nicht über den Intellektuellen Matthias Jüngel, den anderen, den jämmerlichen Helden des Romans, zuerst beflissenes Faktotum von Krass, dann resignierter Professor für Urbanistik, aber: „Wer ist nicht alles Professor?“ Deshalb geht fehl, wer die Katholizität des Autors am Verhalten seiner Figuren misst oder dieses gar gegen seine Katholizität in Stellung bringt. Gerade der Katholik weiß um die Schuldhaftigkeit des Menschen, ohne deshalb auf die Freuden des Lebens zu verzichten – nicht umsonst gibt es keinen Karneval in protestantischen Landen, deren Bewohnern er als bigotter, scheinheiliger Widerspruch erscheinen mag. Puritaner eben.
II.
„Mysterienspiel“ – nur Matthias Matussek hat in der „Tagespost“ die religiöse Dimension des Romans erkannt, „tief unterhalb der glitzernden Oberfläche“. Mosebach verhandle „Leben und Tod und das, was möglicherweise danach kommt“.
Bei einem Anderen waren es die Augen einer Frau: Verrà la morte e avrà i tuoi occhi . „Ein Mann sieht sich beim Sterben zu, der Tod erscheint ihm und hat sein eigenes Gesicht angenommen“ – so ist das bei Krass, mit einem Detail aus dem berühmten Alexandermosaik. Krass ist Alexander der Große, doch zeichnet ihn aus, dass er sich auch als Darius denken kann, als Geschlagener auf der Flucht, aber er würde sich nicht umdrehen wie der persische König der Könige.
Ja, hier reichen wir an das, was den linken Rezensenten gegen den Strich geht, neben den Genannten auch denen der „Frankfurter Rundschau“, der „Welt“ und der „Zeit“. Aber auch der – was fast noch schlimmer ist – progressive Katholik Patrick Bahners schaut in der „FAZ“ wie die Andern nur auf den Stil, die Konstruktion, die Äußerlichkeiten, die „Oberfläche“. Sicher, was wäre eine noch so brillant erzählte Geschichte ohne jene Sprache und Formulierungen, die erst ein Dichtkunstwerk aus dem Erzählten machen. Es ist ein Genuss, dieses Deutsch zu lesen. Kaum jemand kann noch so gut schreiben, und es müssen nicht immer Worterfindungen sein:
„Die junge Frau belebte ihn, der er sich immer nach jüngeren Frauen umgesehen hatte, bis er schließlich von der grausamsten aller Strafen, der Wunscherfüllung ereilt worden war.“
Und freilich, Mosebach ist natürlich kein Prediger, sein Roman mit seinen vielen Nebenfiguren und -geschichten ist vielschichtig und kann auch so und sogar soziologisch als Roman über „bürgerliche Daseinserwartung“ (SZ) gelesen werden. Doch auch hier folgt das im Grunde verständnislose Erschrecken des Rezensenten: „Dieser Roman will einfach nur schön sein.“ Verständnislos darum, weil die Geschichte dieses „Wildschweins“ nicht häßlich, in soziologischer Prosa, sondern in opulenter Schönheit erzählt wird – auch ein (katholischer) Widerspruch. Und es hat darum gleich, zwanghaft, politisch zu werden: „Denn worin sonst als in der Schönheit sollte sich der Konservatismus bewähren?“ Für einen Linken eine rhetorische Frage: Für ihn spielt Konservatismus nirgendwo sonst noch eine Rolle. Aber gemach: Die Realität ist rechts. Und der Himmel ist hierarchisch und hat eine strikte Einwanderungspolitik, die Hölle ist demokratisch und hat offene Grenzen.
III.
Die drei Teile seines 500-Seiten-Romans betitelt Mosebach mit italienischen musikalischen Tempobezeichnungen, einem „peinlichen“ und einem „nachdenklichen“ Andante sowie einem Trauermarsch. Peinlich ist die Sünde, nachdenklich die Reue, dem folgen finale Buße und Vergebung. Der erste Teil, der eine von Krass ausgehaltene Gesellschaft beim Feiern, Kaufen, Schlemmen und Saufen in Neapel und Capri überwiegend aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers schildert, ist ein Kessel der Todsünden – Stolz, Habgier, Völlerei, Wollust, Neid, Feigheit und Zorn sind alle zugegen, es brodelt nur so von ihnen. Krass ist das Zentrum, aber vielleicht nicht einmal der Schlimmste. Mutig kann er dem Schicksal ins Auge schauen, als er beim Schwimmen von der Meeresströmung abgetrieben wird und fast ertrinkt. Und er hat eine gewisse Unschuld, als er Lidewine als Escort-Dienstleisterin gleichsam für sich kauft (und sie sich kaufen läßt), aber gerade keine Liebesdienste von ihr verlangt. Krass hat Klasse.
Der zweite Teil, eine Art Beichte Jüngels in Ich-Form, zeigt ihn bei der Rekonvaleszenz in der französischen Provinz, nach seiner Entlassung bei Krass und der Trennung von seiner Frau. (Diese Hella, die wir nur aus den Berichten des in sie bis zur Abhängigkeit verliebten Jüngel kennen, ist eines der vielen kleinen Meisterstücke Mosebachs in diesem Roman, eine schmerzlich zutreffende Schilderung der deutschen, vom Feminismus zerstörten, intellektuellen Frau mit Männerhassfresse.) Krass, der nie zurückblickt, spiegelt sich in Jüngel, der das dauernd tut und dabei auch seine Begegnung mit der verbitterten Frau Krass berichtet, durch die wir erneut in den allerdings gefilterten Bann des Titelhelden geraten. Dieser Teil ist darum der Reue gewidmet, und als Jüngel den Schuster Louis Desfosses trifft, der in einem Kloster wohnt und arbeitet, können nur Deutschlands Literaturkritiker, die wie Jürgen Habermas „religiös unmusikalisch“ sind, nicht merken, dass in diesem bescheidenen, geraden, leidgeprüften und religiösen Dulder ein geläutertes Bild von Krass ersteht.
„Nichts ist so selten wie echte Blauäugigkeit. Rein biologisch sind die blauen Augen ohnehin zum Verschwinden verurteilt zugunsten der braunen und der schwarzen, aber zugleich sind auch die im übertragenen Sinne Blauäugigen ins Gedränge geraten, und zwar nicht, weil Weltkenntnis und Erfahrung im Vorrücken begriffen wären, sondern weil auch die gänzlich Ungebildeten, die faktischen Analphabeten zu den fixen Kapierern, den zynischen Durchblickern und überlegenen Ungläubigen gehören, unfähig zum Staunen, zum Nichtwissen, zur Hingabe an den Augenblick, dafür strotzend mit dummem Wissen, das unerhellbar ist.“
Auch die Sauftour, die er nach einem Festessen mit Jüngel unternimmt und auf der Beide – ein heilsamer Schock – bei einem Autounfall fast ums Leben kommen, ist die gesunde Version der Gelage von Neapel.
Im dritten Teil, als Parallelmontage gestaltet, wie man filmisch sagen würde, folgen, zwanzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen, Buße und Vergebung. Buße tut Krass aktiv als nun Verarmter und Leidender in Kairo, wo sein letztes Waffengeschäft gescheitert ist. Er irrt mittellos, abgerissen durch die Stadt und begegnet einem besseren Ich, dem Rechtsanwalt Mohammed, einem – wie das in Arabien so selten nicht ist – Bewunderer des Propheten, Marxens und Hitlers. Ist Krass vom Charakter her ein „Menschenfresser“, so ist Mohammed zwar äußerlich ein „Kannibale“ und hat barbarisch-vulgäre Manieren, ist aber nicht vulgär, sondern eine zarte Seele. Er ist unbestechlich, auf eine nicht-fundamentalistische Art religiös, nimmt sich des heruntergekommenen Krass in schlichter Hilfsbereitschaft an und pflegt ihn, nachdem er ihn mit einem Herzinfarkt in ein Armenspital bringen musste. Auch Jüngel und Lidewine tauchen zufällig zur gleichen Zeit in Kairo auf – am Ende haben er und Mohammed mit ihr geschlafen, was niemandem viel bedeutet: „Alle wollen ficken – und das ist leicht, allzuleicht…“, sagt Mohammed durchaus selbstkritisch. Krass, der als Letztes vor seinem Tod an seine vernachlässigte Frau denkt, mag ein Ungeheuer und Narzisst wie der makedonische Alexander gewesen sein, aber er hat es doch vermocht, genuine Zuneigung und Liebe zu erwecken – das macht ihn zum wahren Menschen. Und er konnte nicht nur wie ein Geschäftsmann: „Ich habe keine Zeit“, sondern auch wie ein Blauäugiger sagen: „Das weiß ich nicht.“ Krass verschwindet namenlos in einem Armengrab auf dem riesigen Friedhof von Kairo: Wer ist es, der ihm vergeben könnte? Die Menschen? Seine tief verletzte Frau wohl nicht, aber die drei an seinem Totenbett Versammelten. Gott? Er dann doch: „Von Gott kommen wir, und zu Gott kehren wir zurück“, ruft Mohammed „mit steinerner Miene“ aus, und es ist kein Zufall, dass Mosebach diesen entscheidenden Satz in der islamischen Welt sprechen läßt, die auch unsere Zukunft ist, wodurch wenigstens ein häretischer Abglanz der christlichen Wahrheit erhalten bleibt.
IV.
Das Ende von Krass, dem körperlich Besiegten, aber willensmäßig Ungebrochenen, beschreibt Mosebach mit einer Intensität, die zu Tränen rührt, aber nur den, der ohne Schadenfreude und Neid versteht, dass so tief stürzen nur der kann, der einmal hoch oben stand, mögen Sturz wie Triumph auch rein äußerlich sein und das Wesen nicht berühren. Schimmerte es nicht auch vor Trauer in den Augen Lidewines, die von Krass möglicherweise das einzige ehrenwerte Angebot ihres Lebens erhalten hat?
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
Das Wesen eines Menschen: Schon seine Erwähnung, ja, der Gedanke daran widerstrebt Vielen. „Und alle Rollen sind immer schon verteilt“ – schreibt Rüther und sein egalitaristisch schlagendes Herz verkrampft sich beim Gedanken, dass das stimmen könnte; ähnlich kann Jörg Magenau von der linken „Süddeutschen“ sich nicht abfinden damit, dass „die Dinge [für Ralph Krass] sind, wie sie sind“ – wo bleibt da der erträumte Umsturz, der heute so scheinbar bescheiden nur ein „Zurücksetzen“ sein soll, aber doch unser ganzes Leben umfassen und daher wenigstens und verräterisch ein sozialistisch „Großes“ sein muss?
Nie würde es Mosebach einfallen, einen Roman „zum Tage“ zu schreiben, aber dieses Buch sagt trotzdem mehr über unsere Zeit als all die gängigen Gesellschaftsromane. Ex negativo sieht man das an den „ratlosen“ Kritiken der Säkularen und Atheisten. Schauen wir auch kurz auf die Bedeutung der musikalisch periodisierten Zeit: 1988, in der alten BRD, toben Dekadenz und Korruption. Der Tagebucheintrag Jüngels ein Jahr später, zum 9. November 1989, handelt von allem Möglichen, nur nicht vom Mauerfall. Es gibt existentiell wahrlich Wichtigeres. 2008, im Jahr der Finanzkrise, geht es schon um den Untergang. Ist das nicht politisch genug? Doch ist völlig klar, dass das für uns nicht die Hauptsache sein kann. Denn dass der Roman in seiner Verlebendigung des Beichtsakraments zutiefst katholisch ist, glaube ich gezeigt zu haben. Damit sind wir wieder beim „katholischen Reaktionär“ Mosebach, und es genügt, auf den kolumbianischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila und seine „Scholien“ zu verweisen, um die Absurdität zu erkennen, einen Vorwurf in dieser Bezeichnung sehen zu sollen.
Mit dieser ganz anderen Begründung gebe ich der Schlussfolgerung von Jonas Maron recht: „Martin Mosebach ist eine der letzten gültigen Entschuldigungen dafür, dem zeitgenössischen Prosasektor Beachtung zu schenken.“ Maron ist zu galant, um die linksliberalen Leuchttürme Sibylle Berg, Juli Zeh, Charlotte Roche oder Judith Schalansky als ungültige Entschuldigungen zu erwähnen.
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Über den Autor:
ADORJÁN KOVÁCS, geb. 1958, lebt als Publizist und habilitierter Arzt in Frankfurt am Main. Beschäftigung mit Philosophie, Literatur und Musik. Letzte Buchveröffentlichung: Der Preis des Phönix: Asche und Auferstehung Europas. Politisches Tagebuch 2016-2019. Bad Schussenried 2020. Herausgeber von: Iwan Iljin: Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Wachtendonk 2018.
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